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Selbstentzündung in Singapur

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TAGELANG LIEF ICH herum, nächtelang, um das Singapur zu finden, das man erwartet. Ich fand es nicht, nicht bei Tag, nicht bei Nacht. Nicht in den Vierteln der Chinesen, nicht in den Vierteln der Inder, auch nicht in den Vierteln der Malayen. Singapur war eine Stadt der Ruhe und der Sicherheit; bed Tag und bei Nacht und auch im Hafenviertel und „down town”. Das war im März dieses Jahres, einige Monate, nachdem der umstrittene Staat Malaysia gegründet worden war, mit Singapur als größter Stadt. „Eine Stadt, auf Dynamit gebaut, das jeden Tag explodieren konnte.” So hatte man mir Singapur geschildert, in Kuala Lumpur, der Hauptstadt Malaysias, wo islamitische Malayen mit hohen Turbanen auf den Köpfen, edelsteingeschmückt, mit Besorgnis und in Furcht das brodelnde Singapur beobachten; dem Freihafen des Gesindels, der Ratten, der chinesischen Millionäre und Kommunisten, der indischen Fanatiker und der lethargischen Malayen.

Ich stieß auf kein Dynamit, obwohl ich ziemlich tief grub. Nirgends stieß ich auf Dynamit. In den Bordellstraßen fand ich einen fast perfekten Zustand der Spannungs- losigkeit und des Rassenausgleiches. Das „Gesindel” war zum größten Teil gewerkschaftlich organisiert und auf dem Wege zur Eingliederung in Lee Quan Yuns Wohlfahrtsstaat. Die Chinesen, Millionäre, Kulis, Kommunisten, schienen sicher unter der Kontrolle von Lee Qan Yun. Der Freihafen von Singapur war nachts harmlos und entvölkert wie der Graben in Wien, und als ich einmal kurz nach Mitternacht hörte, wie ein Körper im Wasser aufschlug, fand ich nur eine verzweifelte Katze.

AM LETZTEN TAG, plötzlich, war das Dynamit da. Ich sah es nur kurze Zeit, und es war eine kleine Explosion, doch sie war greli und kostete ein Menschenleben. Mitten am Tag waren einige Malayert aneinander geraten. Malayen sind im allgemeinen eher lethargisch, und ich las Passivität in ihren Bewegungen, Trägheit und Apathie in ihren Gesichtern. Doch vom Gleichmut bis zum Griff nach dem Messer dauert es nur den Bruchteil einer Sekunde. Vom Bild träger Apathien in feuchter Sonnenluft zu Stichwunden in braune, schweißnasse Leiber ist fast kein Übergang. Der Kampf begann wie eine Selbstent- ündu g in heißem Gras. Die Rauferei tobte in einer Straße, die von kleinen Uhrenläden chinesischer Händler gesäumt war. Und zum Schluß, knapp bevor die Polizei mit Dutzenden von Überfallswagen kam, war es plötzlich kein Kampf zwischen Malayen mehr, sondern ein gemeinsamer Sturm des malayischen Gelichters auf die chinesischen Uhrenläden. Im Handumdrehen war alles vorbei, die Messerstecherei zwischen den Malayen, der Sturm auf die Uhrengeschäfte, die Säuberungsaktion der Polizei. Am Platz blieben die Trümmer einiger Geschäfte und die Frau eines Chinesen, die ihren Laden schützen wollte.

Am Abend herrschte wieder Ruhe in der Nachbarschaft, malayische Taglöhner gingen durch die Straßen und standen vor den Auslagen der hellerleuchteten Geschäfte, chinesische Händler versuchten dea malayischen Taglöbnern den Tageslohn abzuknöpfen. Inder schoben ihre Obstkarren durch das Getümmel, und in dunklen Hauseinfahrten richteten sich malayische und indi- scbt. Bettler zur Arbeit und zum Schlafen ein. Plötzlich war das Dynamit explodiert, vor meinen Augen, ganz kurz und unmotiviert. Da war keine Politik drin, keine „Untergrundarbeit” Pekings oder Dja- kartas, eigentlich auch keine sozialen Spannungen, nur das plötzliche Zusammenballen des Hasses der malayischen Taglöhner gegen die chinesischen Uhrenhandlungen.

IN KUALA LUMPUR UND später in Singapur sah ich, die umkämpfte Staatsgründung Malaysia ist gelungen. Die Menschen in Malaysia, Malayen, Chinesen, Inder, wollen den Staat und wollen Zusammenleben. Sukarnos kriegerische Konfrontation kbt nur im Hafenboykott, ein zweischneidiges Schwert, und in Partisanentrupps aus indonesischen Freiwilligen, die über die Grenze in den Dschungel von Borneo eingeschleust werden. Sukarno hat keine fünfte Kolonne in Malaysia. Peking hat eine fünfte Kolonne in den Chinesensiedlungen in ganz Malaysia und in der Geschäftswelt von Singapur, chinesisches Gossengelichter und chinesische Millionäre. Die Männer dieser fünften Kolonne leiden an politischer Schizophrenie. Ich sprach mit einem Gummihändler, der auf Millionen saß, die im Handel mit dem indonesischen Gummi zusammengeflossen waren. Die Konfrontation hatte den Handel abgebrochen, doch er hatte erfolgreich neue Wege des Handelns, zum Teil des Schmuggels, aus Indonesien gefunden.

„Kein Staat in Asien kennt Gerechtigkeit, der nicht in Freundschaft mit China lebt”, sagte mir der Gummihändler im Singapur- Hotel Raffles, einer verwitterten Riesengruft kolonialer Herrlichkeit. „Malaysia kann nicht bestehen bleiben und wird zugrunde gehen. Es ist von europäischer Hand zusammengefügt und gegen Peking gerichtet.” Ich frage „Waren Sie in Peking?” Die Antwort: „Ich fahre jedes zweite Jahr n ch Peking. Ich weiß, es ist elend. Aber China hat viele Zeiten des Elends gekannt und hat sie überstanden und ist geblieben. Die gegen China gerichteten Staaten sind von der politischen Landkarte verschwunden, oder sie haben ihre Unabhängigkeit verloren und sind keine asiatischen Staaten mehr, wie Jepan. Ich lebe gern in Malaysia, und ich lebe gut in Malaysia. Aber Malaysia ist von europäischer Hand errichtet und gegen Peking “

Die Schizophrenen der fünften Kolonne Pekings sind eine verschwindende Minorität selbst im chinesischen Bevölkerungssektor der Millionäre und Bettler. Für die Chinesen, die zwischen den beiden Peripherieposten der chinesischen Gesellschaft in Singapur leben, gilt, was mir ein TaxichauEfeur sagte: „Malaysia ist die einzige Möglichkeit für uns Chinesen, als Chinesen zu leben und am Bruderkrieg zwischen Tschiang Kai-schek und Mao Tse-tung nicht teilzunehmen als dritte Kraft.” Und aus allen Gesprächen mit den Chinesen in Singapur hörte ich den Namen eines Mannes, der es zustande bringen könnte, was bisher noch niemandem gelang: einer chinesischen Gruppe im Ausland ein anderes Zugehörigkeitsgefühl zu geben als das chinesische und ein neues Selbstgefühl zu injizieren; Lee Qan Yun, der frühere Kommunist, dann als Sozialist Bürgermeister von Singapur, heute Ministerpräsident des Föd rativstaates Singapur der Föderation Malaysia und Führer der sozialistischen Opposition im Bundesparlament von Malaysia. Scheitert Lee Qan Yun, so scheitert er nicht an der Politik, sondern an einem Konflikt, der tragisch ist, im Sinn des Unaufhaltsamen.

MALAYSIA IST EIN malayischer Staat, die Malayen fühlen sich als Staatsvolk. Heute schon sind die Malayen in der Minorität: Von den 10,5 Millionen Menschen in Malaysia sind 42 Prozent Chinesen, 39 Prozent Malayen, 9 Prozent Inder. Von den 1,700.000 Menschen, die in Singapur leben, sind 1,300.000 Chinesen, 240.000 Malayen, 140.000 Inder. Zwischen Chinesen, Malayen, Indern sind die Beziehungen durch lange Jahre des Aneinandergewöhnens geordnet. Sie leben in getrennten Stadtvierteln, doch die Trennungslinien sind flexibel, und in Singapur verschwinden sie langsam. Selten sind Mischehen, doch kommt eine Mischehe zustande, so ist das cnne Kampf, und sie erregt keine Feindseligkeit. Doch stärker als die Harmonie, die sich entwickelte, als die Chinesen eine Minorität waren, ist die Dynamik der Chinesen auf dem Weg zur überwältigenden Majorität. Die Chinesen sind aktiv in jeder Beziehung. Genetisch, geschäftlich und wirtschaftspolitisch. Und in den Malayen beginnt sich die Furcht und der Haß eines Volkes auf dem Rückzug zu stauen und führt zu Explosionen. In einer Zeit, da die umliegende Welt unter den Bahnen des Sozialismus und Kommunismus, von Rassismus und Nationalismus erschüttert wird, ist der Vormarsch der Chinesen und der Rückzug der Malayen in Malaysia und besonders in Singapur ein Krisenherd, auch wenn niemand in Malaysia, kein Chinese, kein Malaye, kein Inder den Ausbruch will und auf der Oberfläche der Stadt Singapur die Konturen eines ausgeglichenen Sozialstaates sich abzuzeichnen beginnen. Der sie zeichnet — und dadurch ein großes Experiment gegen die verderbliche Dynamik eines Konflikts der Bevölkerungsgruppen wagt — heißt Lee Qan Yun.

MAN MUSS LEE QAN YUN sehen, hören, kennen, um die Kraft zu erfassen, die Singapur vom Abgrund zurückriß, und um Hoffnung zu sammeln, daß es wieder gelingt. Lee Qan Yun ist Chinese, begann als Arbeiter und körinte Später hilt einem Stipendium in Cambridge bis zum Master of Arts kommen. Nach Singapur zurückgekehrt, strich er das M. A. wieder von seiner Visitenkarte. Als akademisches Signum des englischen Imperialismus. Er wurde eine der Hoffnungen Pekings und Moskaus im Pazifik. Im selben Maß, in dem England sich von der Herrschaft in Singapur zurückzog, stieß Lee Qan Yun nach und sicherte dem Kommunismus den freigewordenen Boden. Er hatte eine blendende Idee; er traf zwei Fliegen mit einem Schlag, er gründete eine Gewerkschaft der Hausangestellten bei den Europäern und hatte damit ein Werkzeug zur Erpressung der Engländer in seinen Händen. Jedes malayische oder chinesische Dienstmädchen, jeder Diener eines Engländers war ein Spion des Kontmu- nistenführers und Gewerkschaftsorganisators Lee Qan Yun. Genial hatte der Cambridge-M. A. dis kommunistische Infiltrationstechnik auf das Privatleben der Engländer in Singapur angewandt. Im Hotel Raffles erzählte mir ein pensionierter englischer Oberst, den die Unabhängigkeit zum Hotelportier degradiert hatte: „1957 war unsere Herrschaft in Singapur schon eine Farce. Politisch war die Stadt von London abhängig, persönlich war in Singapur jeder Engländer in den Händen eines Hausboys und von Lee Qan Yun abhängig. Als im Übergang der Macht der starke Mann der kommunistischen Gewerkschaften Bürgermeister von Singapur werden sollte, packten die Engländer ihre Koffer. Doch Lee Qan Yun wurde zur allgemeinen Überraschung kein Volkskommissar, er warf den Kommunismus ab, er trat aus der Kommunistischen Partei aus. Er gründete die Peoples Action Party und schlug als Ministerpräsident von Singapur und als Führer der neuen Partei, einer sozialistischen Partei, sowohl die Partei der chinesischen Großhändler als auch die kommunistische Partei und mit beiden den Einfluß Pekings. Doch Lee Qan Yun war kein Überläufer seiner Klasse: auf dem Weg von der KP Singapurs zur Peoples Action Party folgten ihm 80 Prozent der Kommunisten, Arbeiter, Kulis, Intellektuelle, Kleinbürger. Im Kampf gegen die Kommunisten seit der Gründung von Malaysia, auch gegen die halbfeudalen Vorstellungen der Regierung der Sultane in Kuala Lumpur, arbeitet Lee Qan Yun daran, dem krisenbedrohten Singapur das Gesicht einer Wohlfahrtsstadt zu geben. Da die Krisenerscheinungen begrenzt sind, konnten Löhne zwischen 100 und 200 Dollar für qualifizierte Arbeiter erreicht werden. Das ist am Reallohn gesehen 10 bis 15 Prozent über den österreichischen Löhnen. Es gibt sozialen Wohnbau, Eigentumswohnungen, Krankenfürsorge, aber natürlich auch unkontrolliertes Elend. Dieses Elend jedoch lagert in den Fugen der Gesellschaft, die dort noch viel breiter und viel tiefer sind als bei uns. Lee Qan Yun ist Chinese. Aber niemand kann ihm nachsagen, jemals einen Chinesen bevorzugt zu haben. Gleich sind auch die Malayen und die Inder für ihn. Lee Qan Yun war Kommunist und antiimperialistischer Nationalist. Die Engländer lieben ihn nicht. Aber sie wissen, er, Lee Qan Yun, ist der einzige, der das Chaos und das Massaker noch von Singapur fernhalten kann. Lee Qan Yun ist der Führer der Opposition im Parlament der Föderation gegen den Ministerpräsidenten Abdul Tumku Rachman. Doch auch die Sultane wissen, daß Singapur verloren ist und Malaysia gescheitert, ohne Lee Qan Yun.

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