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Singapur

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Nachdem die Föderation von Malaia im Sommer 1957 als unabhängiger Staat ins Leben getreten war, wurde Singapur — eine Insel von 225 Quadratmeilen Ausdehnung, mit einer Be- , völkerung von eineinhalb Millionen — ein politisch abgesondertes Gebiet. Und das nicht nur, weil die britische Regierung Singapur auch weiterhin als militärischen und Flottenstützpunkt behalten will!

Es ist eine Tatsache, daß die Machthaber, in Malaia einer Einverleibung Singapurs abgeneigt, sind. Die eine Million starke chinesische Bevölkerung der Stadt würde nämlich die ganze Föderation zu einem vorwiegend chinesischen Gebiet und damit die malaiische Bevölkerung zur Minderheit im eigenen Lande machen.

Im nächsten Jahr soll Singapur vollständige Selbstverwaltung erhalten, und die betreffenden

Vereinbarungen wurden vom Ministerpräsidenten McMillan während seines Aufenthalts in Singapur zu'Beginn des Jahres 1958 bestätigt. Die neue Verfassung soll sich jedoch nicht auf außenpolitische und militärische Angelegenheiten erstrecken.

Die Idee einer örtlichen Autonomie wurde sowohl Von dem jetzigen „Chief Minister“; Mr. Lim Yew Hock, einem gemäßigter! Sozialisten, als auch von seinem größten politischen Gegner, Lee Kuan Yew, einem linksgerichteten Sozialisten, als befriedigend angesehen. Im Gegensatz zu den beiden 'chinesischen Politikern besteht Mister David Marshall, Abkömmling einer jüdischen Familie aus Bagdad und ebenfalls dem linken Flügel der Sozialisten angehörend, auf „Mer-deka“, d. h. voller Selbständigkeit.

Der Gedanke vollständigen Selbstbestimmungsrechts, wie sehr er auch dem Zeitgeist entsprechen mag, ist in Singapur mit seiner in rassischer, religiöser, sprachlicher und politischer Beziehung völlig uneinigen Bevölkerung praktisch kaum anwendbar. Singapur liegt am Treffpunkt Indiens, Indonesiens, Malaias und Chinas. In seiner Bevölkerung sind sämtliche Rassen und Bekenntnisse der Welt vertreten, und nicht weniger als vier Sprachen: Englisch, Chinesisch, Malaiisch und Tamil sind offiziell anerkannt.

Einige malaiische Nationalisten möchten Singapur, obwohl gegen den Widerstand ihrer eigenen Regierung, selbst mit Gewalt an die Föderation angliedern. Die illegale kommunistische Bewegung möchte Singapur natürlich an Rotchina ausliefern, obwohl die Inselstadt vorläufig durch vier unabhängige Länder — Malaia, Siam, Laos und Birma — von der „Volksrepublik“ getrennt ist. Die chinesischen Nationalisten anderseits möchten vielleicht Singapur der Regierung in Formosa angliedern, wenn auch eine solche Lösung praktisch unmöglich ist. Diejenigen, die, wie der „Chief Minister“ Mr. Lim Yew Hock, Singapur als einen isolierten politischen Organismus anerkennen, handeln mehr aus theoretischen Erwägungen als aus Begeisterung. Obwohl sich heutzutage Tausende als „Singapur-Staatsbürger“ eintragen lassen, besteht ein „Singapur-Patriotismus“ vorläufig noch nicht.

Allerdings sind die Kommunisten im Begriff, ihre Zersetzungsarbeit in Singapur — wo die Partei offiziell nicht zugelassen ist — unterirdisch fortzusetzen und auszudehnen. Kommunistischer Einfluß in Singapur könnte sich nämlich in Zukunft auf die wichtigsten Gebiete Asiens: Indien, Indonesien, Malaia, Siam, Vietnam, die Philippinen und vielleicht sogar auf Formosa und Japan ausdehnen und damit die Weltlage für die westlichen Mächte nicht unwesentlich verschlimmern.

Nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich ist Singapur ein bedeutender Treffpunkt unserer zusammenschrumpfenden Welt geworden. Wohlbekannte Besucher treffen täglich ein — Kirchenfürsten, Staatsmänner, Künstler, Filmstars und Sportsleute.

Die Bewohner Singapurs, besonders die chinesischen Geschäftsleute und Handwerker, arbeiten schwer vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Puritaner sind sie jedoch nicht. Es wird herzhaft gegessen, getrunken, Opium geraucht, und Glücksspiele sind sehr beliebt. In mehr als 80 Lichtspielhäusern werden sowohl östliche ah auch westliche Filme vorgeführt, während in zahlreichen Tanzhallen — „Kabaretts“ genannt — Berufstänzerinnen sämtlicher Rassen auftreten.

Nicht weniger als 50.000 Privatwagen rasen durch die Straßen und befördern die bemittelten Mitglieder der Bevölkerung zur Arbeit und zum Vergnügen.

Der großen Anzahl wohlhabender Einwohner, die sich alles leisten können, steht ein hoher ,.Prozentsatz anderer .gegenüber, , die,“ an' dem, .Wohlstand 'der' rührigen “Hafenstadt keinen An-, teil haben. Offiziell wird berechnet, daß von 4000 Abiturienten, die dieses Jahre die Mittelschulen verlassen, ungefähr die Hälfte weder weiterstudieren noch Arbeit finden kann. Als neulich eine Wohlfahrtsorganisation 15 Stellungen ausschrieb, betrug die Anzahl der eingereichten Gesuche 1200. Die zahlreichen Arbeitslosen Singapurs haben unlängst beschlossen, ihre eigene „Gewerkschaft“ zu gründen.

Die politische Unsicherheit der Zukunft hat manche nachteilige Auswirkungen. Die Polizei, aus der mehrere Europäer ausscheiden mußten, um Asiaten Platz zu machen — dieses Verfahren wird „Malaianisatiou“ genannt —, ist nicht in der Lage, der Elemente der Unterwelt Herr zu werden. Raubüberfälle, Erpressungen und Entführungen sind an der Tagesordnung. Da die Bevölkerung bei der Polizei nicht immer den erhofften Schutz findet, steigt die Zahl derjenigen, die bei den traditionellen chinesischen „Geheimgesellschaften“ Sicherheit zu erkaufen suchen.

Die „Geheimgesellschaften“, die oft von den Gangstern selbst geleitet werden, versprechen ihren Schutz denjenigen, die die ihnen auferlegte „Schützsteuer“ regelmäßig entrichten. Angeblich sind es dieselben Geheimgesellschaften, die während Wahlen die Politiker mit Leibwachen versorgen. Natürlich trägt die Existenz dieser „Geheimgesellschaften“ auf die Dauer nicht zum Frieden und zur Sicherheit der Bevölkerung bei, und oft kommt es zu blutigen Zwischenfällen zwischen Mitgliedern konkurrierender Organisationen.

Die Polizei versucht allerdings, der Tätigkeit dieser gesetzwidrigen Elemente Einhalt zu gebieten. Vor kurzem sind „mobile Polizeiämter“ eingeführt worden, die im Auto in der Stadt patrouillieren, um, soweit wie möglich, Zwischenfälle zu verhindern und, wenn sie doch vorkommen sollten, den Opfern schnellstmöglich Hilfe zu leisten und den Verbrechern auf die Spur zu kommen. Allerdings ist einer Verbrechergesellschaft, die alte illegale Traditionen mit modernen Methoden verbindet, schwer beizukommen.

Vorläufig bleibt Singapur — in politischer, polizeilicher, verwaltungstechnischer und kultureller Hinsicht — ein Experiment, nicht nur für die britischen Behörden, sondern ebenso für die einheimischen Politiker und die Bevölkerung. Ein Experiment, freilich, das im Zuge der Entwicklung unvermeidlich ist.

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