Nach dem Sturz der Regierung dreht sich in Den Haag alles um Disziplin beim Staatshaushalt. Die Rechtspopulisten sehen sich als Hüter des Sozialstaats.
Es wird eng in der Mitte: Markt- und Linksliberale, Grüne, Christdemokraten und Sozialcalvinisten, alle drängen sich in diesen Wochen im Zentrum des politischen Spektrums. "Aus der Mitte reformieren wir das Land“, verkündete Alexander Pechtold, Fraktionsvorsitzender der linksliberalen Partei Democraten66, Ende April. Es klang euphorisch, als entstehe da ein neues, visionäres Gesellschaftskonzept in den Niederlanden. Dabei hatten die fünf beteiligten Parteien lediglich einen Haushaltsentwurf für das kommende Jahr verabschiedet, der die Neuverschuldung unter die Drei-Prozent-Marke drücken soll. Nicht mehr, aber auch nicht weniger - immerhin war die Rechtsregierung von Premier Mark Rutte kurz zuvor an diesem Projekt gescheitert.
Die parteipolitischen Verhältnisse in Den Haag sind dadurch kräftig in Bewegung geraten. Die Frage, wer mit wem kann und wer nicht, beantwortet sich deutlich anders als noch vor einigen Wochen, und der neue Kompass dieses Geflechts heißt: Austerität.
Ausgerechnet Den Haag
Ausgerechnet die Niederlande, in der Eurokrise allzeit getreuer Sidekick der Berliner Sparinstanz, steuerten auf einmal selbst auf ein saftiges Defizit von 4,6 Prozent zu, und damit auf ein Bußgeld aus Brüssel. Da zudem auch der Verlust der Top-Bonitätsrate drohte, schrillten die Alarmglocken laut und vernehmlich. Dies waren die Grundkoordinaten, in denen sich oben genannter Kompromiss vollzog. Einziges Kriterium: die Bereitschaft zur Haushaltsdisziplin - im Interesse des Landes, so klang es allenthalben.
Was die "Reform aus der Mitte“ konkret bedeutet? Eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters ab 2013, eingefrorene Gehälter im öffentlichen Dienst, mehr Eigenbeitrag zu den Gesundheitskosten und ein Anstieg des höheren der beiden Mehrwertsteuersätze von 19 auf 21 Prozent. Einige Sparmaßnahmen der bisherigen Minderheitsregierung werden dafür zurückgenommen, darunter der Mehrwertsteueraufschlag im Kunstbereich sowie Kürzungen in Entwicklungshilfe und Bildung. Deutlich ist auch ein ökologischer Akzent mit Vergünstigungen für den Kauf von Solarsystemen, einer Extra-Abgabe auf Kohlekraftwerke. Auch das Budget für Naturschutzmaßnahmen soll erhöht werden.
Nach dem Schulterschluss demonstrierten die beteiligten Parteien Harmonie. Außen vor blieben dabei nur Sozialisten und Sozialdemokraten, die den Entwurf unsozial nennen, sowie die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid (PVV). Überraschend ist das in keinem der Fälle: Die niederländischen Sozialisten plädieren seit Jahren dafür, "die Lasten der Krise anders zu verteilen“, die Sozialdemokraten, latent zwischen Reform und Tradition schwankend, haben zuletzt einmal mehr das eigene Erbe entdeckt. Die PVV wiederum, im Ausland vor allem für rabiate Xenophobie bekannt, schärft schon seit einiger Zeit ihr soziales Profil, lehnt ein höheres Rentenalter ab und fordert mehr Arbeitskräfte im Pflegebereich. Bemerkenswert ist ihre Opposition zum Sparhaushalt höchstens im Rückblick auf die politische Laufbahn ihrer Galionsfigur: Geert Wilders nämlich entstammt just der marktliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) des zurück-getretenen Premiers Mark Rutte, der vor allem Austerität predigte.
Quadratur des Kreises
Just dieses Spannungsverhältnis prägte die anderthalb Jahre eines umstrittenen Koalitionsmodells: der Minderheitsregierung aus Ruttes VVD und Christdemokraten, abhängig von der Unterstützung der PVV. Unter Haushaltsgesichtspunkten war die Liaision von Beginn an eine Quadratur des Kreises. Die PVV ließ sich ihre Zustimmung mit der Ghostwriter-Rolle auf dem Feld der Migrationspolitik entlohnen, die entspechend brachial ausfiel. Ein fatales Amalgam, das zumal an der christdemokratischen Basis Protest auslöste. Dass Wilders nach knapp zweimonatigen Verhandlungen die Zustimmung zum Haushaltsentwurf verweigerte, zeigt, dass die Grenze dieser Schnittmenge erreicht war.
Nachdem die Formel "Sparen gegen Zuwanderungsbeschränkung“ nun außer Kraft gesetzt ist, wird das gescheiterte Modell zur Zentrifuge. Die ehemaligen Protagonisten der "rechtesten Regierung aller Zeiten“ sind geradezu gerührt ob der spontanen Kooperation von Linksliberalen und Sozialkonfessionellen, und eine seltene Harmonie schwingt zwischen Koalition, die nunmehr kommissarisch tätig ist, und gemäßigter Opposition. Aufseiten der Christdemokraten rühren sich Stimmen, das Verbot von Burka und doppelter Nationalität rückgängig zu machen, die das Kabinett auf Druck der PVV forciert hatte.
Man kann sich des Eindrucks eines allgemeinen Aufatmens nicht erwehren, wie nach dem sprichwörtlichen Erwachen aus einem schlechten Traum. Dies kann indes kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Zusammenarbeit mit der PVV für Mark Rutte 2010 die erste Option war, und sich auch die Christdemokraten, ihren fundamentalen Zweifeln zum Trotz, damals zu zwei Dritteln dafür aussprachen. Wie befreit aus einem allzu engen Korsett geriert sich seit dem Aus der Regierung Geert Wilders. "Mit sehr viel Enthusiasmus“, so zitierten ihn niederländische Medien dieser Tage, gehe er in den Wahlkampf. In Wirklichkeit hat seine Kampagne längst begonnen: In seiner ersten Parlamentsrede wenige Tage nach dem Scheitern der Regierung zog er gegen den "Brüsseler Superstaat“ vom Leder. "Brüssel regiert, Brüssel diktiert“, kommentierte er kurz darauf den Haushaltskompromiss, und folgerte: "Die Niederlande springen über ihren eigenen Schatten - leider ohne Fallschirm.“
EU ist gleich Austerität
Im Wilders’schen Duktus ist Austerität zum Synonym für die EU geworden, gerade als habe es vor dem europäischen Stabilitätspakt keine Sparpolitik gegeben. Inzwischen fordert Wilders offen den Austritt der Niederlande aus der EU. Auch eine Rückkehr zum Gulden, der "schönsten Währung Europas“, propagiert die PVV immer mal wieder. Es sind diese Register, die sie im Kampf um die Stimmen von "Henk und Ingrid“ ziehen. Letztere sind ein fiktives repräsentatives niederländisches Paar mittleren Alters, weiß, nicht wohlhabend, doch hart arbeitend. "Für Henk und Ingrid, nicht für Ali und Fatima“, hieß es früher. 2012 ist die Stoßrichtung eine andere: "Entweder Brüssel, oder Henk und Ingrid.“
Nicht nur wegen des Oppositionskurses der PVV ist die jüngste Erleichterung über den Haushaltseentwurf nicht mehr als eine Momentaufnahme. Aus sozialdemokratischen Kreisen kam die Anmerkung, der Kompromiss habe ein deutlich begrenztes Haltbarkeitsdatum: die Neuwahlen am 12. September.
Danach, so Exminister Ronald Plasterk, "können wir alles rückgängig machen. Der Haushalt von 2013 wird durch das neue Kabinett verabschiedet.“ Den Haag dürfte damit noch ein heißer Tanz um die Achse der Austerität bevorstehen.