Ein Land im WIDERSTAND

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Die Flüchtlingsdebatte in den Niederlanden spitzt sich zu. Proteste finden längst nicht mehr nur verbal statt. (Vor-)Stufen einer Eskalation.

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Die Flüchtlingsdebatte in den Niederlanden spitzt sich zu. Proteste finden längst nicht mehr nur verbal statt. (Vor-)Stufen einer Eskalation.

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Später am Abend fragte sich Dasja Abresch dann doch, ob dies noch ihre Niederlande seien, ein Land, in dem die Meinungsfreiheit gelte. Eben noch hatte sie diese als "unbezahlbares Gut" gepriesen, oben auf dem Podium der überfüllten Turnhalle. Zehn Minuten lang hatte sie dort während einer öffentlichen Debatte erklärt, warum Steenbergen Flüchtlinge aufnehmen sollte. Ständig hatten Asyl-Gegner ihre zehnminütige Rede lautstark unterbrochen, mit xenophoben und sexistischem Geschrei. Das hatte sie so ähnlich erwartet, doch dass sie dann, nach der Rede, in einem Polizeiauto über Umwege nach Hause gebracht wurde, zu ihrer eigenen Sicherheit, das erschreckte sie dann doch.

Steenbergen ist ein Städtchen in der Provinz Noord- Brabant, 23.000 Einwohner, rund 50 Kilometer südlich von Rotterdam. Eine von vielen Kommunen, in denen die mögliche Unterbringung von Flüchtlingen in diesem Herbst für heftige Diskussionen sorgt. Und seit der tumultartigen Debatte in der Turnhalle letzte Woche ist Steenbergen auch ein Symbol für einen Diskurs, der aus dem Ruder läuft. Dasja Abresch, ehemalige Gemeinderätin, kann davon ein Lied singen. Ihre beiden Kinder brachte sie aus Vorsicht an jenem Abend anderswo zum Schlafen unter. Ein paar Tage zuvor hatte jemand einen Stein durch ihre Haustür geworfen.

Anschlag auf Flüchtlingsheim

Es gärt in den Niederlanden. Gut 40.000 Asylbewerber hat man heuer bislang aufgenommen, fast doppelt so viele wie 2014, und täglich kommen rund 700 neue dazu. Zwei Drittel der Teilnehmer einer aktuellen Umfrage sind dagegen, noch mehr zuzulassen. Wenige Wochen zuvor waren es noch 56 Prozent. Bislang wählten die Menschen hier Geert Wilders, wenn sie sich von vermeintlich zu vielen Zuwanderern oder Asylbewerbern umgeben sahen. Sicher schimpften viele auch über buitenlanders ("Ausländer") oder Allochthonen, doch tätliche Übergriffe gab es hierzulande bislang nicht.

Bis zum 9. Oktober. Woerden, ein Städtchen bei Utrecht: Gegenüber einer Neubausiedlung liegt das Sportzentrum Snellerpoort. 150 Flüchtlinge sind dort untergebracht, ein Drittel davon Kinder. An jenem Freitag Abend schrecken die Anwohner von vier heftigen Explosionen hoch. Besorgte Nachbarn sehen dichten Rauch über dem Sportzentrum stehen, und dann eine Gruppe vermummter Männer, die zwischen den Häusern in der Nacht verschwinden. Elf von ihnen werden festgenommen. Gerüchten zufolge soll es eine Verbindung in die nahe Stadt Montfoort geben, wo es eine Facebook-Gruppe gibt mit dem Namen "Unser Montfoort flüchtlingsfrei". Das Sportzentrum steht nun wieder leer, die Flüchtlinge werden einige Tage später in eine andere Unterkunft gebracht.

Etwa zur gleichen Zeit werden in der Zweiten Parlamentskammer in Den Haag schwere Geschütze aufgefahren: Geert Wilders, Frontmann der zuwanderungsfeindlichen Partij voor de Vrijheid, geht auf Konfrontationskurs mit jedem, der der Flüchtlinge nicht überdrüssig ist. Andererseits gibt es eine Mehrheit dafür, den Vorrangs-Status anerkannter Asylbewerber für eine Wohnung abzuschaffen. "Einfacher Auffang" heißt das Konzept, das dieser Tage bei den meisten Parteien wie selbstverständlich auf Zustimmung trifft. Anspannung und Druck sind spürbar, die Botschaft von "Woerden" deutlich: Den Parteien könnte diese Sache aus den Händen gleiten.

Zentrum der politischen Debatten

Am Abend der Parlamentsdebatte dreht sich auch Pauw, eine der tonangebenden Polit-Talkshows, um diese Frage. Zu Gast sind zwei Kommunalpolitiker aus Rijswijk vor den Toren Den Haags. Beide haben kürzlich Drohbriefe bekommen: "Guten Tag Yvonne", liest die Sozialdemokratin Yvonne Hagenaars aus ihrem vor, den sie nach der Arbeit frankiert und handschriftlich adressiert in ihrem Kasten fand. "Zuerstmal, was für herrliche Töchter hast du. Mmmmm. Wenn hier ein Asylantenheim hinkommt, besuch ich sie mal in der Schule. Denk mal gut nach über das Asylantenheim ok."

Am nächsten Morgen ist es noch nicht einmal hell, als Yvonne Hagenaars schon in ihrem Auto sitzt. Als Lehrerin an einer Berufsschule hat sie sich vor der ersten Stunde Zeit genommen für einen Ortstermin. Entlang von Bürogebäuden fährt sie zu der Abriss- Stelle, wo hinter einem Bauzaun noch die Ruinen einer Hochschule stehen. Der Gemeinderat in Rijswijk beschloss mit großer Mehrheit, dort ein Zentrum für 500 Flüchtlinge zu errichten. Protestiert hat nur eine Lokalpartei namens "Besser für Rijswijk". Yvonne Hagenaars hat dafür durchaus Antennen. "Wir dürfen nicht blind sein gegenüber berechtigten Gefühlen, dass im Gegenzug soziale Einrichtungen gekürzt werden."

In ihrer Tasche hat sie eine Kopie des Briefs, den sie standhaft "Einschüchterung, nicht Bedrohung" nennt. Ganz Lehrerin, hat sie darauf einen Rechtschreib- und einen Orthografiefehler angestrichen. Yvonne Hagenaars hat einiges erlebt in ihrer politischen Laufbahn. "Einmal, als ich auf dem Markt Flyer verteilte, meinte jemand, man müsste mich verbrennen. Und ich hatte mal einen anonymen Anrufer, der sagte, er wisse meine Kinder zu finden." Mindestens acht Kollegen aus dem Stadtrat hätten nun einen Brief bekommen, jeder mit einem persönlichen Text. "Meiner ist einer der schlimmsten."

hoffen auf die Demokratie und Vernunft

Wer von dieser Frau nun einen Abgesang auf die politische Kultur erwartet, wird enttäuscht. Gestern Abend, erzählt sie, vor der Talk-Show, da wurde sie auch gefragt nach einem negativen Umschlagpunkt in der öffentlichen Meinung. "Ich erwarte aber einen positiven. Dass die Leute sagen, wir müssen doch mal aufhören, Flüchtlinge so zu behandeln. Neulich waren da zwei Schüler in meiner Klasse, die sagten:'wenn wir fliehen müssen, wollen wir doch auch, dass jemand uns aufnimmt.' Bevor sie sich aufmacht in die Schule, sagt sie noch: "Ich habe Vertrauen in die Demokratie, und darauf, dass wir uns mit Argumenten beschießen."

In den Meinungsumfragen ist von einem solchen Umschwung allerdings nichts zu sehen. Seit Wochen baut die zuwanderungsfeindliche Partij voor de Vrijheid ihre Führung aus. Ende Oktober liegt sie bei mehr als 24 Prozent -ein astronomischer Wert für die Niederlande. Seit Wochen fordert Parteichef Geert Wilders die Niederländer auf, "Widerstand" gegen die Aufnahme von Flüchtlingen zu leisten. "Nie mit Gewalt", ergänzte Wilders per Twitter nach dem Anschlag von Woerden, und forderte, die Täter hart zu bestrafen. Gerne taucht Wilders in diesen Wochen an Orten auf, an denen es Proteste gegen Flüchtlingsheime gibt. Die Botschaft ist deutlich: Die PVV gibt sich als die einzige Partei, die die Sorgen der Menschen ernst nimmt. Die Zweite Parlamentskammer hingegen verhöhnte Wilders unlängst als "Nep-Parlament".

Auch nach Steenbergen wollte der umstrittenste Politiker des Landes neulich kommen - eine Woche vor der aus dem Ruder gelaufenen Diskussion. Ironischerweise verhinderten berufliche Verpflichtungen im Parlament seinen Besuch. Gut 100 Asylgegner wollten ihn empfangen, mit Transparenten wie "Steenbergen leistet Widerstand","Grenzen dicht" oder "Refugees not welcome". 50 meist ältere Gegendemonstranten wurden angeschrien und vereinzelt mit Eiern beworfen, sodass Fahrradpolizisten mit ihren Mountainbikes eine Absperrung bildeten.

Geert Wilders will seinen Besuch möglichst bald nachholen. "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben", twittert er, und wiederholt noch einmal: "Leistet Widerstand!" Seine Partei bekommt inzwischen laut Umfragen mehr Sitze als beide Regierungsparteien zusammen.

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