Ein "urgeselliges" Kabinett in Holland

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Mehr Gemeinschaftssinn bekommen die Niederlande von ihrer neuen Regierung verordnet: Dazu gehört auch ein Generalpardon für Asylwerber.

Zusammen arbeiten, zusammen leben" steht auf der Flagge, unter der das vierte Kabinett Jan Peter Balkenende in der letzten Woche vom Stapel lief. An Bord: Die verhinderte Große Koalition aus Christ-(CDA) und Sozialdemokraten (PvdA) sowie als Mehrheitsbeschafferin die sozialkonservative ChristenUnie bei ihrer ersten Regierungsteilnahme. Das Motto klingt trivial angesichts der gesellschaftlichen Diskurse der vergangenen Jahre. Es erinnert an sozialtherapeutische Konzepte wie Integratives Wohnen - und das ist auch Absicht: eine große Dosis Gemeinschaftssinn gegen die Wunden der schroffen öffentlichen Konflikte, Nestwärme statt Individualismus, die Betonung des sozialen Zusammenhalts statt Ellenbogenmentalität. Die Minister gehen mit gutem Beispiel voran: vor wenigen Monaten noch lieferten sich CDA und PvdA einen erbitterten Wahlkampf mit persönlichen Angriffen. Nun soll die Überbrückung der inhaltlichen Differenzen auf die Gesellschaft ausstrahlen: "Es ist ,urgesellig' im Kabinett", titelte NRC Handelsblad augenzwinkernd.

Neue Beschaulichkeit

In den bisherigen, allesamt vorzeitig beendeten Amtszeiten Balkenendes gab es reichlich Polarisierungspunkte: ansässig gegen zugewandert in der multikulturellen Frage, "die Bürger" oder das Establishment in Den Haag, europäische Integration oder das Primat vermeintlich niederländischer Interessen. Die Tendenz, solche Gegensätze in einer neuen, ethisch untermauerten Beschaulichkeit aufzulösen, zeichnete sich bereits im vergangenen Herbst ab, als soziale Themen den Wahlkampf beherrschten.

Flankiert wurde dieser Diskurs vom Schlagwort der "Normen und Werte", dem sich die meisten Parteien anschlossen. Seine Umsetzung ist das neue Regierungsabkommen. Die Christdemokraten konnten mit der weiteren Abziehbarkeit der Hypothekenzinsen einen ihrer Kernpunkte verankern. Durch die verhinderte Liberalisierung von Wohnungsmarkt und Kündigungsschutz sieht die PvdA ihren Anspruch auf soziale Gerechtigkeit verwirklicht. Die ChristenUnie schließlich punktet durch umfangreichere Beratungsprogramme zur Vermeidung von Abtreibungen und modale Beschränkungen der Homoehe: Standesbeamte können demnach ethische Bedenken geltend machen, um eine gleichgeschlechtliche Trauung nicht zu vollziehen. Symbolisch für diesen gemeinsamen Nenner ist der bei der Rentenfinanzierung erzielte Kompromiss: nur die reichsten Pensionäre werden an den Kosten der Vergreisung beteiligt. Dies ist weniger, als die PvdA wollte, und mehr, als die Pläne des CDA vorsahen. Nahe liegende Lösung: der Koalitionsvertrag übernimmt den Standpunkt der ChristenUnie, die dank ihrer strategischen Lage zwischen den großen Koalitionspartnern viele Punkte ihres Wahlprogramms umsetzen konnte.

Generalpardon bei Asyl

Eine Einigung gibt es auch auf einem Gebiet zu vermelden, das im Dezember für die jüngste politische Krise der Niederlande verantwortlich war: Asylbewerbern, die sich zum Zeitpunkt der letzten Gesetzesänderung 2001 im Land befanden, steht im Rahmen des nun beschlossenen Generalpardon offen, sich "legalisieren" zu lassen. In der Eröffnungssitzung der frisch vereidigten Zweiten Kammer hatte eine linke Mehrheit dies mit einem entsprechenden Antrag erzwingen wollen. Daraus ergab sich eine komplexe Konstellation. Die Christdemokraten fanden sich in einem Loyalitätskonflikt: auf der einen Seite der bisherige rechtsliberale Koalitionspartner VVD, mit dem zusammen die CDA für eine repressive Asylpolitik verantwortlich war. Auf der anderen Seite die anvisierte neue Regierung mit PvdA und ChristenUnie, die den Antrag unterstützten. In einer Marathonsitzung wurde ein vorläufiger Abschiebestop für die betreffenden Flüchtlinge vereinbart. Darin lag bereits ein Signal in Richtung Generalpardon, für das es in der niederländischen Gesellschaft eine breite Zustimmung gibt und das radikale und liberale Linke, Kirchen und Gewerkschaften seit Jahren fordern. Nichtsdestotrotz lassen die politischen Erben Pim Fortuyns am rechten Rand des Spektrums eine solche Gelegenheit zur Agitation nicht ungenutzt, und so erklingt auch dieser Tage die bekannte "Asylbetrüger"-Rhetorik - und verhallt keineswegs ungehört.

Angesichts des Konsens in der Koalition bleibt den selbst ernannten Souffleusen der Volksseele wenig Spielraum jenseits ihres Lieblingsthemas Integration. Insbesondere die neue rechte Galionsfigur Geert Wilders, dessen Partij voor de Vrijheid mit neun Abgeordneten ins Parlament einzog, tritt dabei in Szene. Neben dem Generalpardon polemisiert er gegen zwei Staatssekretäre der PvdA: Ahmed Aboutaleb (Soziales) und Nebahat Albayrak (Justiz) stammen aus Migrantenfamilien und haben neben einem niederländischen auch einen marokkanischen bzw. türkischen Pass. Eine Steilvorlage für Wilders, der Aboutaleb riet, wenn marokkanische Staatsbürger ihren Pass nicht zurückgeben könnten, solle er dort Staatssekretär werden.

Prinzessin mit falschem Pass

Auch für die ehemalige Ministerin für Ausländerangelegenheiten und Integration, Rita Verdonk (VVD), bot die Situation eine willkommene Gelegenheit zu einem adäquaten Abschied: auch die Frau des Thronfolgers, die populäre Prinzessin Maxima, müsse ihren argentinischen Pass aus Loyalitätsgründen abgeben. Der vermeintliche Unterhaltungswert der Bemerkung täuscht darüber hinweg, dass diese Strategie System hat: auch Verdonks letztjähriger Versuch, Parteikollegin Ayaan Hirsi Ali die Staatsbürgerschaft zu entziehen, war die symbolische Unterwerfung einer bekannten öffentlichen Person unter immer repressivere Ausländergesetze. Langfristig schafft dies Präzedenzfälle im Hinblick auf diejenigen, die nicht über eine entsprechende Lobby verfügen. Die eine Million Niederländer mit doppelter Staatsbürgerschaft rücken damit in den rechtspopulistischen Fokus. Jüngste Umfragen zeigen, dass in dieser Frage durchaus Potenzial liegt, die momentane breite Zustimmung der Bevölkerung zur Regierungskoalition zu gefährden.

Einbürgerung nach Flutplan

Konsensfähig ist indes auch das neue Einbürgerungsgesetz, das nach einem Entwurf der Vorgängerregierung zum 1. Jänner in Kraft trat. Die Verschärfung in Form von verpflichtenden "Integrationskursen" unter Kostenbeteiligung und Androhung von Sanktionen macht es zum strengsten in Europa - entgegen jeglicher liberaler niederländischer Tradition. Ab 2008 sollen permanente Aufenthaltstitel sogar an erfolgreich abgelegte "Einbürgerungsexamen" gekoppelt werden. Einer Presseerklärung des Justizministeriums zufolge definieren diese Neuerungen, "auf welche Weise sich ethnische Minderheiten in die niederländische Gesellschaft integrieren müssen". Unabhängig davon, dass das Gesetz ein Projekt der Mitte-Rechts-Koalition aus CDA und VVD war, wird diese Rhetorik inzwischen von den meisten Parteien mitgetragen.

Die Nachbeben der so genannten Fortuynschen Revolution sind auf der Richterskala der politischen Kultur immer noch zu spüren. "Multikulturalität" ist zu einem Unwort geworden, das instinktiv Ablehnung und Angst hervorruft. Nicht umsonst bestätigt die neue Koalition im Regierungsabkommen das Prinzip, dass Einwanderer selbst für ihre Integration verantwortlich seien. Die dramatische Ankündigung eines "Einbürgerungs-Deltaplans" (angelehnt an den Deltaplan zum Schutz vor Überflutungen) bedeutet Wasser auf die Mühlen des grassierenden Kulturchauvinismus und verdeutlicht, dass die Grenzen des Zusammenlebens Definitionssache sind - und es noch lange keine ausgemachte Sache ist, wie ,urgesellig' es in den Niederlanden wird, nicht nur im Kabinett.

Der Autor ist Korrespondent in Amsterdam.

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