Brasilien ist keineswegs auf ausländisches Kapital angewiesen

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Die geplante Panamerikanische Freihandelszone macht Südamerika wirtschaftlich noch mehr von den USA abhängig.

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Die geplante Panamerikanische Freihandelszone macht Südamerika wirtschaftlich noch mehr von den USA abhängig.

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die furche: Wie stehen Sie zur geplanten Panamerikanischen Freihandelszone FTAA?

Milton Temer: Die FTAA ist eine Tragödie für den Kontinent. Sie wird für Lateinamerika das sein, was die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) schon für Mexiko ist. Dort hat sie die Arbeitslosigkeit erhöht, die Löhne gesenkt, große Teile der mexikanischen Industrie ruiniert und die mexikanische Bevölkerung gegen Ex-Präsident Ernesto Zedillo aufgebracht, was zur Wahl des Gegenkandidaten Vicente Fox beigetragen hat. Die FTAA bedeutet eine Ausweitung der Vorteile für die US-Wirtschaft, ohne dass sie die gleichen Vorteile für die lateinamerikanischen Produzenten brächte.

die furche: Und die Position Ihrer Partei, der PT?

Temer: Die Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterpartei und Präsident Enrique Cardoso findet nicht bei der FTAA statt, hier gibt es keine großen Unterschiede. Allerdings lehnen wir die Freihandelszone radikaler ab. Cardoso akzeptiert die FTAA ab 2005, die PT will, dass sie gar nicht in Kraft tritt. Wir treten für ein Referendum ein. Davon abgesehen hat das brasilianische Kapital kein Interesse an der FTAA; es hat die Lektion von Mexiko gelernt.

die furche: Kann sich Brasilien ein Nein zur Freihandelszone leisten?

Temer: Die FTAA wird es ohne Brasilien nicht geben. Wenn wir nächstes Jahr die Präsidentschaftswahlen gewinnen, wird Brasilien der Ausgangspunkt für eine Bewegung zur Stärkung regionaler Wirtschaftsräume sein und der Spitze einer Reihe aufstrebender Länder stehen, die sich gegen die neoimperialistische Politik der USA zur Wehr setzen.

die furche: Neoimperialismus - ist diese Bezeichnung nicht überzogen?

Temer: Für die USA ist die FTAA ein Instrument, mit dessen Hilfe die US-Produzenten ohne jede Barriere auf den lateinamerikanischen Markt stoßen können, ohne dass die lateinamerikanischen Produzenten die gleiche Möglichkeit hätten, auf den US-amerikanischen Markt zu gehen. Unter anderem aufgrund der so genannten "Anti-Dumping"-Gesetze. Mit ihrer Hilfe verhindern die USA den Import von Schuhen, Stahl oder Zitrusfrüchten. Wenn Brasilien die FTAA ablehnt, werden die USA allerdings versuchen, uns zu isolieren und Freihandelsabkommen mit anderen Ländern abschließen, vor allem von Mercosur-Ländern wie Argentinien, Chile, Bolivien oder Peru, um den Kreis um Brasilien herum zu schließen. Venezuela steht auf der Seite Brasiliens.

die furche: Braucht die brasilianische Wirtschaft nicht ausländisches Kapital, um in Schwung zu kommen?

Temer: Ganz sicher nicht. Das ausländische Kapital kommt, um alles aufzukaufen, aber nicht um Arbeitsplätze zu schaffen. Es senkt die Sozialstandards und schafft zusätzliche Arbeitslosigkeit, indem viel Personal in aufgekauften Firmen entlassen wird. Das erleben wir speziell im Dienstleistungssektor: bei Banken, in der Energiewirtschaft oder der Telekommunikation. Uns interessiert nur Kapital, das Arbeitsplätze schafft und nicht eines, das sie zerstört. Ein Beispiel: "Metal Leve", ein Betrieb in Sa~o Paulo, produzierte Bestandteile für die Automobilindustrie und belieferte damit die deutsche Firma "Mahler". Mahler kaufte Metal Leve auf. Für Brasilien wäre es besser gewesen, dass Mahler hier investiert, eine Fabrik gebaut und Arbeitsplätze geschaffen hätte.

die furche: Was würde die Brasilianische Arbeiterpartei ändern, wenn sie nächstes Jahr die Wahl gewinnt?

Temer: Zunächst möchte ich anmerken, dass viele sogenannte linke Parteien, sobald sie in der Regierung sind, die Politik der Rechten fortsetzen, zum Beispiel in Deutschland. Was ist der Unterschied zwischen Kohl und Schröder? Die PT in Brasilien würde versuchen, das ausländische Kapital zu regulieren. Das hat mit Xenophobie nichts zu tun. Wir wollen bloß die ganze Palette an Steuerprivilegien, die das ausländische Kapital gegenüber dem inländischen genießt, beseitigen. Außerdem werden wir dem spekulativen Kapital klare Grenzen setzen, das inländische mit eingeschlossen. Dieses Kapital darf nicht die Wirtschaftspolitik der Regierung diktieren. Wir wollen stattdessen den brasilianischen Inlandsmarkt auf die Beine bringen. Brasilien hat 160 Millionen Einwohner, von denen aber nur 40 Millionen als Konsumenten betrachtet werden können. Die Mehrheit arbeitet im informellen Sektor, ist arbeits-, obdach- oder landlos. Wir wollen das Potential ausschöpfen, das dieser Inlandsmarkt in sich birgt: Arbeitsplätze, angemessene Löhne, Sparen im Inland. Brasilien ist die neuntgrößte Wirtschaft der Welt, wir sind nicht auf das ausländische Kapital angewiesen, wir haben genug eigenes Kapital. Für den Schuldendienst gibt es immer ausreichend Geld: Zwischen 1995 und 1999 bezahlte Brasilien netto 128 Milliarden Dollar an die reichen Industrieländer. Dennoch vergrößerte sich in der gleichen Periode die Auslandsschuld Brasiliens um 99 Milliarden Dollar. Auf diese Weise finanziert Brasilien die Erste Welt.

die furche: In Europa nimmt man die Finanzkrisen in Brasilien oder in Asien als kurze Unterbrechung des Kursfeuerwerks auf den Aktienmärkten wahr. Welche sind die Folgen für das brasilianische Bevölkerung?

Temer: Die Folgen sind dramatisch. Die Krisen, in denen meist der Dollar gegenüber der jeweiligen nationalen Währung des Krisenlandes plötzlich stark aufgewertet wird, verursachen den Anstieg von Preisen und Gebühren für öffentliche Versorgungsleistungen, die heute privat sind. Gleichzeitig stagnieren die Löhne der Staatsbediensteten seit sechs Jahren.

die furche: Werden Sie einige der Privatisierungen zurücknehmen?

Temer: Eine Rücknahme wird schwierig sein. Aber wir können zumindest verhindern, dass sich die Privatisierungen auf andere Sektoren ausweiten und zusätzlich eine strengere Verwaltungs- und Steuerpolitik einführen, damit sich die vertraglichen Leistungen der privatisierten Versorger nicht verschlechtern. Außerdem hindert niemand die Regierung daran, neue öffentliche Versorgungsunternehmen zu gründen.

die furche: Sie haben gesagt, dass Brasilien den Binnenmarkt über den Inlandskonsum ankurbeln soll. Heißt das mehr Ressourcenverbrauch auf Kosten der Umwelt?

Temer: Im Gegenteil: Brasilien ist eines der Länder, das die besten Voraussetzungen für ein selbsttragendes ökologisches Entwicklungsmodell hat. Was wir aber nicht wollen, ist, dass sich die USA zum Umweltschiedsrichter aufspielen, zum Beispiel beim "Schutz Amazoniens". Wir haben selbst alle Voraussetzungen dafür, dass unsere wirtschaftliche und soziale Entwicklung den Schutz der Lebensgrundlagen zum Ziel hat und nicht die Interessen des Großkapitals.

Das Gespräch führte Christian Felber

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