Aufstand der Peripherie

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Zum "Jahrhundert Amerikas" gehört für US-Präsident George W. Bush nicht nur die Neuordnung des Nahen Ostens. Auch ein gesamt-amerikanischer Freihandelsraum steht auf seiner Agenda ganz oben. Aber hier wie dort formiert sich massiver Widerstand.

Nicht nur das von USVerteidigungsminister Donald Rumsfeld beschimpfte "alte Europa" widersetzt sich den Plänen der Vereinigten Staaten, auch im "alten Amerika" formiert sich der Widerstand. In Lateinamerika mischt sich dabei der Protest gegen einen Irak-Krieg mit der Ablehnung gegen die von den USA propagierte amerikanische Freihandelszone - für US-Präsident Bush der erste Schritt auf dem Weg zu einem "Jahrhundert Amerikas". Wobei er selbstverständlich den Namen des Kontinents mit dem seines Landes gleich setzte.

George W. Bush hatte während seines Wahlkampfes verkündet, dass die Schaffung eines gesamt- amerikanischen Freihandelsraumes (FTAA für die USA und Kanada, ALCA für das "restliche" Amerika) ein Ziel seiner Präsidentschaft sein wird. Diese Freihandelszone wäre mit 800 Millionen Menschen und einem gesamten Bruttoinlandsprodukt von über 11 Billionen US-Dollar der größte Handelsraum der Welt.

Doch Washington erfährt mit wachsender Eindringlichkeit, dass es neben den "United States of America" auch noch andere Länder auf diesem Kontinent gibt, deren Bevölkerungen mit der US-amerikanischen Vorstellung eines "Jahrhunderts Amerikas" nicht einverstanden sind. Der traditionelle Hinterhof der USA ist dabei - das hat auch das Weltsozialforum in Porto Alegre Ende Jänner eindrucksvoll gezeigt -, sich zu emanzipieren.

"Dollarisierung" angesagt

Als 1999 die Verhandlungen über die Gesamtamerikanische Freihandelszone begannen, war für Washington die Welt noch in Ordnung. Die lateinamerikanischen Regierungen schienen richtig hungrig danach zu sein, sich unter die ökonomische Oberhoheit der USA zu begeben; "Dollarisierung" hieß das Zauberwort, das die kränkelnden Nationalwirtschaften sanieren sollte. Doch dann kam Seattle, das Scheitern der Konferenz der Welthandelsorganisation, das auf eindringliche Weise die Kraft des zivilgesellschaftlichen Widerstandes gegen die neoliberalen Wirtschaftspraktiken bewies.

Auch im kanadischen Québec, wo im April 2001 die ALCAVerhandlungen konkretisiert und terminisiert wurden, war dieser Widerstand allgegenwärtig. In dem zur Festung ausgebauten Konferenzgebäude wurde schließlich festgelegt, den alle Staaten der Hemisphäre - mit Ausnahme des Parias Kuba - umfassenden Freihandelsvertrag bis zum Jahr 2005 unter Dach und Fach zu bringen.

L. Boff: Gefährlich & pervers

"Wo sind die Menschen in diesem Vertrag?", fragte kürzlich der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff in einem Zeitungskommentar. "Es genügt, das Grundsatzabkommen für die Freihandelszone zu lesen, um festzustellen, dass die humanistische, geistige und ethische Substanz, die für jedwede Integration unserer Länder notwendig ist, völlig fehlt", kritisierte Boff. Tatsächlich stehen die in Québec eingerichteten neun Verhandlungsgruppen völlig unter dem Vorzeichen des freien Marktzuganges - "dem gefährlichsten und perversesten Weg, den wir einschlagen können, dem Weg des kapitalistischen Handels", wie es Leonardo Boff formuliert.

Verhandelt wird über freien Marktzugang, ungehinderte Investitionen und Kapitaltransfers, Privatisierung der öffentlichen Dienste und Gemeingüter - und über die Ausschaltung jeglicher nationaler Rechtsnormen, die dem Freihandel im Wege stehen könnten, etwa hinsichtlich Umweltschutz oder Sozialpolitik. Verhandelt wird hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Allerdings nicht ganz: Vor den Verhandlungsrunden treffen sich Vertreter der im Amerikanischen Handelsforum zusammengeschlossenen Konzerne mit den Unterhändlern.

Brasilien nimmt durch die Bedeutung seiner Volkswirtschaft im gesamtamerikanischen Kontext eine Schlüsselrolle in der Kritik an der US-amerikanischen - und großteils auch kanadischen - Position ein. Diese Kritik wurde schon vom früheren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso formuliert. Unter dem Schlagwort "Export oder Tod!" wandte sich Cardoso gegen die nordamerikanischen Bemühungen, ihren eigenen Markt weiterhin durch Handelsbarrieren zu schützen.

Für die lateinamerikanischen Länder ist die Ausfuhr in die USA, dem weltweit größten Verbrauchermarkt, von existenzieller Bedeutung. Zwar liegen die Zölle für brasilianische Ausfuhren in die USA nur bei durchschnittlich drei Prozent, doch untersucht man die Warenstruktur, ergibt sich, dass die 15 wichtigsten brasilianischen Güter mit durchschnittlich 46 Prozent Zoll belegt werden (gegenüber 13,5 Prozent bei den 15 Hauptexportprodukten der USA nach Brasilien).

Die südamerikanische Großmacht hat in der Vergangenheit schon mehrmals gegen Prinzipien des Freihandels, so wie sie die Nordamerikaner verstehen, verstoßen. Etwa durch die kostenlose Verteilung von Anti-AIDS-Medikamenten, durch den Schutz des traditionellen Wissens der indigenen Völker gegen die Interessen der Pharma-Industrie, durch seinen Kampf gegen die Agrarsubventionen in den wohlhabenden Staaten.

Vorreiter Brasilien

Der wichtigste Motor des Widerstands gegen die Gesamtamerikanische Freihandelszone sind jedoch nicht Regierungen, sondern zivilgesellschaftliche Initiativen. Dabei wird die Phalanx der Gruppen, die gegen ALCA ankämpfen, immer breiter und organisierter. Und auch hier spielt Brasilien eine Vorreiterrolle.

In der ersten Septemberwoche des Vorjahres führte ein Zusammenschluss von rund 60 Organisationen - darunter die Katholische Bischofskonferenz, die Landlosenbewegung MST, die unabhängige Gewerkschaft CUT - in ganz Brasilien ein Referendum in Sachen Freihandelszone durch. Bei dieser rechtlich unverbindlichen Abstimmung sprachen sich über zehn Millionen Menschen, immerhin ein Zehntel der Wahlberechtigten, gegen einen ALCA-Beitritt aus. Obwohl sich die Parteispitze von Lulas Arbeiterpartei (PT) gegen eine Beteiligung an dem Referendum ausgesprochen hatte, um dieses nicht zu politisieren. Unter den 150.000 AktivistInnen, die die Volksbefragung in knapp 4.000 Gemeinden durchführten, waren jedoch zahlreiche PT-Mitglieder.

Ungleiche Voraussetzungen

Auch wenn der neue Präsident Brasiliens, Luiz Inacio "Lula" da Silva, die Frage des ALCA-Beitritts zu keinem Hauptthema seines Wahlkampfs machte, so bestehen über seine ablehnende oder zumindest kritische Position keine Zweifel. Nach Lulas Auffassung ist ein Grundprinzip des freien Handels die Gleichheit der Handelnden, und die sei beim gegenwärtigen ALCA-Konzept nicht gegeben. So hat er auch bei seinem Besuch in Washington Präsident Bush klar zu verstehen geben, dass es für Brasilien ein Freihandelsabkommen unter ungleichen Voraussetzungen nicht geben werde.

Das in Uruguays Hauptstadt Montevideo ansässige Forschungsinstitut ALADI der Lateinamerikanischen Vereinigung für Integration mehrt die Stimmen jener, die sich gegen die Gesamtamerikanische Freihandelsregion - unter den derzeitigen Vorzeichen - aussprechen. In einer kürzlich vorgelegten Studie werden einige Folgen eines ALCA-Vertrages für die lateinamerikanischen Nationalökonomien vorgerechnet. Demnach seien in der brasilianischen Automobilbranche 70 Prozent der Exporte gefährdet. Argentinien müsste mit Brasilien um die Weizenexporte in die USA konkurrieren.

Überhaupt müssten die Länder des MERCOSUR - Argentinien, Chile, Uruguay und Brasilien - ihre Handelsbeziehungen neu definieren. Trotz der Krise, in die diese Freihandelszone durch die Entwicklungen in Argentinien und Uruguay geriet, ist dieses Konzept dennoch für viele eine Alternative. Einer der Väter der MERCOSUR-Idee, der brasilianische Botschafter und Ökonom Samuel Pinheiro Guimarães, denkt sogar an eine Ausweitung auf eine Südamerikanische Freihandelszone, die dann mehr Verhandlungsmacht gegenüber dem nordamerikanischen Block hätte.

Die ALCA-Gegner haben sich mittlerweile kontinentalweit organisiert. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, Konsumentenschutzverbände, soziale und Menschenrechtsorganisationen, Frauengruppen einschließlich Kirchen und Gewerkschaften haben sich in einer Kontinentalen Sozial-Allianz (ASC) zusammengeschlossen, die einen umfangreichen Alternativvorschlag zu dem US-amerikanischen ALCA-Konzept ausgearbeitet hat

Bischöfe gegen Ausverkauf

Eine wichtige Rolle dabei spielen Vertreter der katholischen Kirche. In Brasilien war Pater Alfredo Gonçalves, Leiter der Abteilung Soziales in der Katholischen Bischofskonferenz, einer der Koordinatoren des Referendums gegen die Gesamtamerikanische Freihandelszone. Und zu Beginn des Vorjahres gaben die kanadischen Bischöfe ein Dokument mit demTitel "Ausverkauf der Zukunft" heraus, in dem sie auf die drohenden Fehlentwicklungen der Ausdehnung der nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) auf den gesamten Kontinent hinweisen. Nach Meinung der Bischöfe zeigen die bisher bekannten Grundlagen des Vertrages deutlich, dass die Interessen der multinationalen Unternehmen über die Interessen der BürgerInnen und der Umwelt gestellt werden.

Allem Anschein nach wird es Präsident Bush nicht leicht haben, seine Vorstellung von einem "Jahrhundert Amerikas" umzusetzen - zumindest nicht in der eigenen Hemisphäre. Der Hinterhof rebelliert und die gegenwärtige Dynamik dieses Aufstandes weist deutlich auf ein Anwachsen der Bewegung gegen die Gesamtamerikanische Freihandelszone.

Der Autor ist Redakteur des Südwind-Magazins.

Weitere Informationen im Internet unter:

* www.asc-hsa.org

* http://movimientos.org/noalca/

* www.cccb.ca/html_commissions/

TradingAwayTheFuture.htm

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