Der Freihandel ist nicht frei

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Der Welthandel wächst seit Jahren schneller als die globale Wirtschaft. Das heißt, dass ein immer größerer Anteil der weltweit hergestellten Waren und Dienstleistungen exportiert wird. In Summe macht der Welthandel momentan sechs Billionen Dollar pro Jahr aus. Nicht alles ist jedoch "freier Handel": Ein Drittel ist Intrafirmenhandel (zum Beispiel IBM Österreich liefert an IBM Thailand), ein weiteres Drittel ist Interfirmenhandel (zum Beispiel IBM liefert an Microsoft), und nur ein Drittel ist "klassischer" Welthandel (zum Beispiel VA Tech liefert an die türkische Regierung).

Freihandel zeichnet sich, anders als gemeinhin angenommen, nicht durch bloße Deregulierung aus (zum Beispiel durch den Abbau von Zöllen). Freihandel muss erst mit beträchtlichem regulatorischem Aufwand hergestellt werden. Die Welthandelsorganisation (WTO) und ihre Unterabkommen sind eine Geschichte der Bürokratisierung des internationalen Handels. Die neuen Regulierungen begünstigen dabei klar multinationale Konzerne gegenüber den Interessen der Allgemeinheit.

Großgemästet

Aber auch abgesehen von der Konzerndominanz (zwei Drittel) des Welthandels und der Regulierung zugunsten von Konzernen ist viel von Freihandel die Rede und weniger davon vorhanden. Vor allem bei denen, die ihn am lautesten predigen: So haben zum Beispiel die USA und Großbritannien ihre Konzerne durch massiven Protektionismus großgemästet und lassen sie nun auf die Entwicklungsländer los. Gleichzeitig wollen diesen verbieten, sich davor zu schützen - mit der rhetorischen Protektionismuskeule, die mit Nationalismus-Stacheln gespickt ist.

Gleichzeitig schotten die Fürsprecher des Freihandels ihre Märkte immer noch vor der Konkurrenz aus dem Süden ab. Die UNO hat soeben berechnet, dass den armen Ländern jährlich Einnahmen im Wert von 130 bis 180 Milliarden US-Dollar entgehen, weil sich die Industrieländer in manchen Bereichen nach wie vor protektionistisch verhalten. Ein Beispiel ist das "Multifaserabkommen" in der WTO, das den Markt der Industrieländer gegen Importe aus den armen Ländern teilweise abdichtet.

Dass "Protektionismus" ein vielversprechendes Erfolgsrezept ist, haben nicht nur die Industrieländer bewiesen, sondern auch die bisher einzigen Staaten, die den Sprung von der dritten in die erste Welt geschafft haben: die asiatischen Tiger, allen voran Südkorea und Taiwan.

Kurioserweise werden just sie permanent als Beispiele für die segnende Wirkung des Freihandels herangezogen (eigentlich als "Beweis" dafür, dass die Globalisierung "dem Süden" nützt). Ihr Protektionismus hat sogar einen Namen: "infant industry policy". Solange gewisse Wirtschaftszweige in den Kinderschuhen stecken, werden sie geschützt.

Der Hausverstand sagt, dass Freihandel nur zwischen ebenbürtigen Partnern Sinn macht. "Wenn Ungleiches gleich gestellt wird, wird der Starke stärker und die Schwache schwächer" (Claudia von Werlhof). Genau das scheint passiert zu sein.

Galten schon die achtziger Jahre als das verlorene Jahrzehnt für die armen Länder, so lag das Pro-Kopf-Einkommen 1998 in 50 Ländern nochmals niedriger als 1990. Und der Anteil der ärmsten 48 Länder am Welthandel ist seit 1980 von 0,6 auf 0,3 Prozent geschrumpft. "Attac"-Deutschland bezeichnet daher den freien Handel zwischen Nord und Süd als "Fußballmatch auf einer schiefen Ebene, wobei der Norden bergab spielt, und der Süden bergauf".

Was wären nun "ebenbürtige Partner"? Zum Beispiel Kanada und die USA - nicht aber die USA und Mexiko. Gerade das Beispiel Mexiko zeigt, dass frühzeitiger Freihandel keinen breiten Aufschwung bringt: Die Exporte Mexikos konzentrieren sich auf eine winzige Minderheit von wettbewerbsfähigen Unternehmen, während vor allem Kleinbetriebe der Reihe nach Bankrott gehen. Die Vorprodukte der Exporteure werden mehrheitlich importiert und nicht von mexikanischen Zulieferern bezogen.

Generell sind die Einfuhren nach Mexiko schneller gewachsen als die Ausfuhren: Gewinner sind die USA. Und die vielbemühten "spill over-effects", also die positiven Impulse auf die mexikanische Wirtschaft, finden ebenso wenig statt, wie sich die "trickle down-Theorie" bewahrheitet hat, derzufolge die Reichen nur ausreichend reich gemacht werden müssten, damit auch für die Armen mehr abfällt: Die Mindestlöhne liegen heute in Mexiko um zwei Drittel niedriger als vor 20 Jahren.

Angepasste Modelle

Fazit: Anstatt alle Länder schnellstmöglich in das Freihandelsregime der WTO zu drängen, sollte es jedem Land erlaubt sein, seine eigenes kulturell angepasstes Wirtschaftsmodell zu wählen oder zumindest sensible Branchen solange zu schützen, bis diese imstande sind, den Inlandsmarkt zu versorgen und gegen ausländische Konkurrenz zu bestehen. Alles andere ist wirtschaftspolitischer Selbstmord, auch wenn dieser von den Industrieländern verordnet wird.

Lateinamerika hat seine Märkte vorschnell geöffnet und dadurch eine "Reprimarisierung" der Wirtschaft erfahren: Die in den "Kinderschuhen" steckenden Industrien wurden zerstört - zum Beispiel die Lederverarbeitung in Brasilien oder die Maschinenbaubranche in Argentinien -, und der Wertschöpfungsschwerpunkt verlagerte sich wieder auf Rohstoffausbeutung und Intensivlandwirtschaft. Weite Teile Afrikas haben durch die verfrühte Marktliberalisierung erst gar nicht einen Binnenmarkt aufbauen können.

Wäre also die Ebenbürtigkeit der Partner Voraussetzung Nummer eins für freien Handel, so gibt es deren weitere drei:

* ökologische Kostenwahrheit. Dann würde sich ein Gutteil des Handels (vor allem von Gütern mit niedrigem Kilopreis) erübrigen, der Transport wäre schlicht zu teuer. Die Schweizer, die zu Jahresbeginn die bisher ehrgeizigste Bemautung von Straßen eingeführt haben (technisch problemlos machbar, sogar auf allen Straßen und nicht nur auf Autobahnen), haben berechnet, dass vollständige Kostenwahrheit eine Kilometermaut von 50 Schilling für einen 40-Tonner bedeuten würde. Damit wären neuseeländische Kiwis oder Holz aus Finnland nicht mehr konkurrenzfähig. Kostenwahrheit wäre der stärkste Impuls für eine Renaissance der Regionen.

* Der Wettbewerb muss sich auf Qualität konzentrieren, nicht auf politische Rahmenbedingungen. Zu Deutsch: Schluss mit Steuer-, Sozial- und Umweltdumping. Wer an einem System fairen Handels teilnehmen will, muss sich zu hohen Standards bekennen: Kapital angemessen besteuern, die Arbeits- und Menschenrechte einhalten, ökologisch kostenwahr wirtschaften, sprich Mensch und Umwelt schützen (auch eine Art von "Protektionismus", im Buh-Wort des Jahrzehnts steckt eigentlich nur der harmlose "Schutz").

Stopp der Biopiraterie

* Die Regeln müssen im Interesse der Allgemeinheit gemacht werden, und nicht auf Wunsch der Global Players. Dann hätte zum Beispiel das TRIPS (das WTO-Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums) keine Chance auf Umsetzung. Dieses Abkommen verteuert nämlich einerseits die Gesundheitsversorgung der armen Länder, und andererseits fördert es die Biopiraterie westlicher Konzerne, indem es Patente auf jahrtausendlang traditionell entwickelte und genutzte Pflanzen vergibt, sobald an diesen nur ein Gen verändert wird. Nicht nur das TRIPS ist gegen die Interessen der Allgemeinheit gerichtet: Das Abkommen über den Handel mit Waldprodukten bedroht die Lebensräume indigener Völker und das Dienstleistungsabkommen GATS die öffentliche (flächendeckende und preisgünstige) Versorgung mit Grundgütern wie Bildung, Gesundheit, Pensionen oder Wasser.

Wäre der Freihandel tatsächlich im Interesse aller, dann müsste schon der Beitritt zur WTO in einem intensiven Diskussionsprozess aller Beteiligter stattfinden: Kommunen, Länder, Parlamente, Zivilgesellschaft, indigene Bevölkerung. Davon kann momentan keine Rede sein. Die WTO, die den Freihandel immer im Doppelpack mit Demokratie predigt, ist vorwiegend eine elitäre Regierungs- und Expertenangelegenheit. Ihre nächste Ministerkonferenz (von 9. bis 13. November) findet im Wüstenstaat Qatar statt, in dem wichtige demokratische Grundrechte nicht gelten.

Der Autor ist freier Publizist und Vorstandsmitglied von "Attac" Österreich.

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