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Die Nachbarn haben Angst vor dem Koloß

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Die brasilianische Regierung hat als eine der Bedingungen für ihre Verhandlungen mit Argentinien über die Ausnutzung des Paranä das Ende der „antibrasüianischen Kampagne” in der Bonaerenser Presse gefordert. Tatsächlich kommt aber in ihr nur die Angst zum Ausdruck, die unter den Nachbarn des Kolosses Brasilien vor der Expansionspolitik des größten Staates Südamerikas besteht. Sie wird in Brasilia zwar bestritten, aber das Schlagwort „Land im Aufbruch” und die These von den „Grenzen in Bewegung” sind geeignet, Unruhe zu Verbreiten. Die Sorge ist des weiteren in den historischen Gebietsveränderungen begründet In Venezuela erklärte kürzlich ein an Geopolitik interessierter Oberst (Josė Antonio Olavarrfa), sein Land habe „in den letzten 100 Jahren die Hälfte seines Territoriums aus Nachlässigkeit verloren”. Bolivien hat mit einem Vertrag aus dem Jahre 1867 300.000 Quadratkilometer an Brasüien abgetreten; der größte Teil davon bestand aus der Zone von Acre, die um die Jahrhundertwende 60 Prozent des amazonischen Gummis produzierte.

Brasilien hat mit Uruguay vqr kurzem einen Entwicklungsvertrag über die Grenzzone der Laguna Merin geschlossen. Seine Hälfte dieses Gebietes hatte es 1777 und 1801, noch vor der Unabhängigkeit Uruguays, vertraglich erworben. Davon abgesehen, ist den Lateinamerikanern aus der jüngeren Geschichte die Gefahr größerer Gebietsverluste bewußt geworden. Zu den meistdiskutierten Problemen gehört da Boliviens Kampf um den Korridor zum Pazifik, den es vor 100 Jahren im „Salpeterkrieg” eingebüßt hat Ein anderer Stachel im Fleisch der immer wieder mißlingenden Integration des Halbkontinents erklärt sich aus der Tatsache, daß Peru 1942 das Amazonasgebiet von Ekuador mit Hilfe einer Kriegsdrohung erpreßt hat.

Die Sorge vor der brasilianischen Expansionspolitik entspringt aber nicht nur den geschichtlichen Erfahrungen. Die Grenzen zwischen den südamerikanischen Staaten sind vielfach nicht fest markiert, zumal sie häufig aus den Verwaltungsbezirken des spanischen Kolonialreiches entstanden sind, zwischen denen eine genauere Abgrenzung eher als überflüssig erschien. Es gehört außerdem zu den Merkwürdigkeiten der politischen Gefühlswelt lateinamerikanischer Völker, daß sie auf anscheinend unwichtige Grenzverletzungen neurotisch reagieren. So liest man in der bolivianischen Presse immer wieder, daß abwechselnd Brasilianer oder Chüe- nen in die umstrittene Grenzzone „eingefallen” seien, indem sie dort ihre Landsleute angesiedelt hätten. Tatsächlich bemüht sich Brasilien, gerade wegen seines Kampfes mit Argentinien um die Hegemonie, sehr um die zwischen beiden Ländern hegenden kleinen Staaten des „Urupabol” (Uruguay, Paraguay, Bolivien). Bei dem vielbeachteten Besuch, den der bolivianische Präsident General Hugo Banzer kürzlich seinem brasilianischen Kollegen General Ernesto Geisel abstattete, ging es in erster Linie um Wirtschaftsfragen. Bolivien soll in einer neu anzulegenden Pipeline täglich 240 Millionen Kubikfuß Erdgas liefern. Die beiden großen Länder brauchen für ihre wachsende Schwerindustrie Eisenerz. Deshalb kämpfen sie um die Produktion des angeblich größten Lagers der Welt, des bolivianischen „El Mutün”. Geisel bestellte 400.000 Tonnen Eisenblech für 1981 und sicherte den Ausbau eines Industriezentrums in dieser Zone zu. Aber auch dieses große Geschenk kann die Sorge vor der brasilianischen Expansion nicht völlig beseitigen; denn „El Mutün” liegt in der Grenzzone. Trotz des Entwicklungsvertrages über die Laguna Merin ist man auch in Uruguay über den wachsenden Einfluß des riesigen Nachbarn besorgt. Man will verhindern, daiß Brasilianer Estancias auf uruguayischem Boden erwerben. In der Grenzzone wird obendrein ein Mischmasch aus Spanisch und Portugiesisch gesprochen, „portuKol” genannt. Rundfunk und Fernsehen Brasiliens strahlen bis in den Norden Uruguays aus und nach Argentinien hinein.

Der neueste Konflikt geht nun um die Souveränität über den Rio de la Plata. Als weitere Bedingung für Verhandlungen über die Ausnutzung der Wasserkraft des Flusses Paranä fordert Brasilien, daß der Vertrag, der 1973 zwischen Argentinien und Uruguay geschlossen wurde, berichtigt werde. Der Riesenfluß bietet unerschöpflichen Diskussionsstoff für die Völkerrechtler. Sie streiten vor allem darum, ob der bis zu 50 Kilometer breite Strom eine Flußmündung oder ein Meeresarm sei. Vor 120 Jahren vertraten die Brasilianer den Standpunkt der Rio sei „agua de nadie” („Niemandsgewässer”) und sicherten sich so in einem Vertrag mit Uruguay die freie Schiffahrt auf ihm. Im Jahre 1908 vertrat auch der argentinische Außenminister Estanislao Cebal- los die These, daß Uruguay nur die „costa seca”, die „trockene Küste”, besitze, so daß ein Montevideaner, wenn er an einem seiner sieben Strände badet, nach dieser These in argentinischem Gewässer schwämme. Dem jahrhundertelangen Streit machte Pe- rön 1973 ein Ende. Der Rio de la Plata wurde in seiner Mitte zwischen Uruguay und Argentinien geteilt. Mit der Anlage von grenzmarkierenden Bojen wird jetzt begonnen. Die Brasüianer verlangen, daß die Bestimmungen dieses Vertrages aufzuheben seien, soweit sie die exklusive Souveränität der beiden Anliegerstaaten Argentinien und Uruguay begründen. Nach dem Abkommen könnten sie auch die Einfahrt brasilianischer Kriegsschiffe in den Rio de la Plata verbieten. Nun ist die brasilianische Forderung sehr schwer zu verstehen. Wenn Brasüiens Kriegsschiffe auf Freundschaftsbesuch kommen, wird man sie willkommen heißen, wenn sie hingegen mit feindlicher Absicht in Richtung auf Buenos Aires fahren sollten, würden die Paragraphen des argentinisch-uruguayischen Abkommens sie wohl kaum daran hindern können, aber das brasilianische Außenministerium „Itamaraty” wird von scharfsinnigen Juristen geleitet, die bisher eine behutsame und stets legalistische Politik betrieben haben.

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