Befreiung von der Vernunft

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Das Revival des deutschen Schlagers der sechziger und siebziger Jahre - eine verständnisvolle Analyse.

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Das Revival des deutschen Schlagers der sechziger und siebziger Jahre - eine verständnisvolle Analyse.

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Er nennt sich "Kreuzritter der Zärtlichkeit" und verkündet "Ich möchte die Sehnsucht nach Menschlichkeit stillen". Der Schlagersänger Guildo Horn fühlt sich gar als Reinkarnation von Roy Black. Während seinem Begräbnis sei der Geist des legendären Schnulzen-Sängers in ihn, Horn, gefahren. In Wirklichkeit, so mutmaßte der "Standard", habe Roy Blacks Geist Hansi Hinterseer anvisiert. Dieser duckte sich jedoch plötzlich und dahinter stand Guildo Horn ... Der dickliche Mann im schrägen Siebziger-Jahre-Outfit, von dessen Glatzenrand fette lange Haare baumeln, wird Deutschland beim Eurovisions-Songcontest am 9. Mai vetreten - sehr zum Mißfallen großer Teile der zeitgenössischen deutschen Schlager-Branche. Denn Horn ist keiner der ihren. Der studierte Pädagoge - Titel seiner Diplomarbeit: "Befreiung von der Vernunft" - ist Galionsfigur des derzeitigen Schlager-Revivals, das seinen Ursprung in Intellektuellen- und Künstlerzirkeln nahm.

Wohlgemerkt: Hier ist die Rede vom deutschsprachigen Schlager der sechziger und siebziger Jahre: Michael Holm, Christian Anders, Nana Mouskouri, Daliah Lavi, um einige Namen wahllos herauszugreifen. Der Schlager der fünfziger und der ganz frühen sechziger Jahre (Peter Kraus, Ted Herold, Conny Francis) wurde schon vor knapp zwei Jahrzehnten im Zuge der Neuen Deutschen Welle rehabilitiert. Was älter ist, findet nur noch bei Liebhabern Gehör. Daß Interpreten wie die "Comedian Harmonists" (durch einen Kinofilm) kurzzeitig dem Vergessen entrissen werden, passiert nur sehr selten. Auch mit dem zeitgenössischen Schlager, dieser solariumbraunen und perlweißen Beschwörung der heilen Welt, hat das Schlagerrevival nichts zu tun.

Lange Zeit galt der deutsche Schlager schlechthin als absoluter Tiefpunkt der Kulturindustrie, als Inbegriff von Seichtheit und Verlogenheit. "Verbrecherische Volksverdummung" wetterte der Schriftsteller Peter Rühmkorf mit tiefster Überzeugung. Doch 30 Jahre nach dem legendären "Schnulzen-Erlaß" des damaligen ORF-Generalintendanten Gerd Bacher ("Wann immer man Ö3 aufdreht, säuselt einem ein germanischer Schwachsinniger in die Ohren"), feiert der klassische Schlager fröhliche Urständ'. An Orten, wo ansonsten laute Gitarrenmusik oder Techno ertönt, finden Schlagerparties statt. Interpreten wie Guildo Horn, Dieter Thomas Kuhn ("Die singende Fönwelle aus Tübingen") oder der österreichische Veteran "Mandi von den Bambis" finden ein begeistertes Publikum. Auch Willi Resetarits alias Ostbahn-Kurti wartete in seiner legendären, leider kürzlich eingestellten Radiosendung "Trost und Rat" ("Eine Sendung von Radio Wien und Klosterfrau Melissengeist") mit einer wilden Mischung aus Schlager, und (echter) Volksmusik aus Österreich und vom amerikanischen Kontinent auf.

Soziologisch ist das Schlager-Revival einfach erklärt: Die Entwicklung der Kultur wird stets von einer avantgardistischen Minderheit vorangetrieben, die etwas Neues hervorbringen und sich von den herrschenden Vorstellungen und Ideen radikal abgrenzen möchte. Nach einiger Zeit werden die einstmals avantgardistische Gedankenwelt und ihre verschiedenen Ausdrucksformen Allgemeingut. Eine neue Avantgarde, die sich wiederum davon abgrenzt, wächst heran.

Für die Avantgarden vergangener Tage war es immer selbstverständlich, sich vom Massenphänomen Schlager abzugrenzen. Doch spätestens Ende der achtziger Jahre wurde die Verachtung des Schlagers zum kulturellen Mainstream. Deutschsprachiges verkaufte sich immer schlechter, die zeitgenössische Schlagerindustrie schlitterte in die finanzielle Krise. Als Roy Black 1991 starb, so schien es, wurde mit ihm auch der deutsche Schlager endgültig zu Grabe getragen.

Für die Avantgarde wurde aber der Schlager plötzlich zu etwas, das der Abgrenzung von der Lebenswelt der breiten Mehrheit dienlich war. Anfang der neunziger Jahre wurden in Künstlerkreisen die ersten Schlagerparties gefeiert, der "Panoptische Kreis Wien" etwa enthüllte ein Roy-Black-Denkmal auf der Donauinsel.

Doch die neu entdeckte Liebe zum Schlager ist nicht nur eine Abgrenzungsstrategie oder ein Jux. Sicherlich, mit unsäglichen und peinlichen Schlagertexten ließen sich Bibliotheken füllen, mit all der im Laufe der Zeit produzierten minderwertigen Schlagermusik könnten Radiostationen mühelos jeden Hörer vertreiben. Doch das Schlager-Revival hat auch den Blick freigemacht auf einige Schätze aus dem Schlager-Fundus, die nun getrost in die Annalen der Musik eingehen können. "Unvergeßliche Schlager rühren an kaschierte Schichten der Psyche, sie benennen Wünsche und Sehnsüchte so offen, wie es die Rede des Alltags kaum erlaubt", analysieren die Kulturwissenschaftler Max und Moritz (ihren gemeinsamen Vornamen Rainer verschweigen sie, wegen der Pointe) in dem von ihnen herausgegebenen Buch "Schlager, die wir nie vergessen". Tragische Balladen wie "Melancholie" (Die Bambis), "Merci Cherie" (Udo Jürgens) und "Geh nicht vorbei" (Christian Anders) - eine durchaus subjektive Auswahl des Furche-Autors - gehören mit Sicherheit zu jenen Meilensteinen, auf die die Musikgeschichte dereinst stolz zurückblicken wird.

Der als Antonio Schnizel in Bruck an der Mur geborene Christian Anders ist übrigens eine der schillerndsten Sterne im Schlager-Universum: Am Höhepunkt seines Ruhmes trug er nur noch weiße Nerzmäntel und ließ sich im goldenen Rolls-Royce chauffieren. Er solle einmal einen Koffer mit 500.000 D-Mark auf einem Flughafen vergessen haben. Dann kam der Absturz. Als Steuerflüchtling - das Finanzamt hatte keinen Pfennig seiner immensen Verdienste gesehen - landete er in Los Angeles. Völlig pleite und obdachlos. Da überkam ihn die Erleuchtung. Heute ist der ehemalige Schlagerstar ein von vielen Amerikanern verehrter Guru namens Lanoo und als solcher wieder zu Reichtum gekommen. Vor einigen Jahren kettete er sich splitternackt am Tor jenes deutschen Gefängnisses an, in dem sein Bruder, ein SPD-Abgeordneter, wegen Geldfälscherei einsaß.

Doch zurück zu den "Bojen im Lebens- und Bewußtseinsstrom" (Max und Moritz): "Das im Schlager Ertönende", heißt es bei den beiden Lausbuben, "verleiht Sicherheit, gibt dem rast- und obdachlosen Menschen das Gefühl, daß die elementaren Weisheiten nicht gänzlich verlorengegangen sind. Wo anders als im Schlager regiert der Mut zur umfassenden Aussage, zu Lehren und Erkenntnissen, die nicht vom Zweifel angekränkelt sind?" Den Hauch von Ironie in diesen Worten einmal beiseitegestellt: Wer könnte denn wirklich der tiefen Wahrheit einer Textzeile wie "Kein Meer ist so wild wie die Liebe" (Merci Cherie) irgend etwas entgegensetzen?

Parallel zum Schlager haben auch andere, ähnlich beleumundete Phänomene Beachtung im Kunst- und Kulturbetrieb gefunden. Zu dieser als Trash-Kultur bezeichneten Schiene gehören auch Veranstaltungen wie der Songcontest, bei dem Österreich erst nächstes Jahr wieder teilnehmen darf. Seit einigen Jahren erfreut sich der einst unter denkenden Menschen verpönte Wettbewerb größter Beliebtheit. Echte Fans jedoch drehen den Ton des Fernsehers ab und stellen das Radio auf FM4, den ORF-Jugendsender. Dort nämlich kommentieren die FM4-Starmoderatoren Stermann und Grissemann (pikanterweise Sohn des offiziellen ORF-Songcontest-Kommentators) die Veranstaltung - und machen sich gnadenlos über das Gebotene lustig. Bei Guildo Horn wird das nun nicht mehr nötig sein. Bleibt nur die bange Frage: "Germany: twelve points" oder "L'Allemagne: zero points"?

Schlager, die wir nie vergessen. Verständige Interpretationen Max und Moritz (Hg.), Reclam Verlag Leipzig 1997, 294 Seiten, Tb., öS 139,

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