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Katzenjammer auf Mittelwelle

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Zwei Ansager einer westdeutschen Rundfunkstation haben sich kürzlich vor aller Öffentlichkeit außerstande erklärt, die nervtreffenden Texte und Melodien der derzeitigen „Schlager“ weiterhin zu ertragen, ja, noch anpreisen zu können. Das Echo war überraschend. Die Sympathiekundgebungen für die beiden Demonstranten reichten bis tief in jene Teenagerkreise hinein, die man bisher — so wie der Film sein Lieschen Müller — als Bannerträger des haarstäubenden Wort- und Notenunsinns moderner Schlagerproduktion angesehen hatte.

Die Verbreitung solcher Schlager in Millionen Schallplatten und Rundfunksendungen, Hitparaden und Wettrennen (in Wien läßt man, außer einer täglichen „Gut-aufge-legt“-Sendung, zusätzlich an jedem Samstagabend, ganz besonders kindisch bezeichnet, „Pferdchen aus dem Stall“) bleibt demnach ungeklärt. Gewiß halten die mächtigen Schallplattenkonzerne und „Gilden“ das Wasser ständig am Kochen, doch ist damit bestimmt nicht alles erklärt. Plausibler klingt es, wenn man den Riesenerfolg der Schlager mit ihrer Funktion als Ersatz für das leider schon fast ganz erstorbene echte alte Volkslied und das zu Anfang des Tonfilms vielversprechend erklungene, dann aber rasch verflachte Tonfilmlied erklärt. Grundsätzlich ist also auch der Schlager gutzuheißen, zumal er beachtenswerte Schöpfungen hervorgebracht hat; die Kritik gilt dein unüberhörbaren Abgleiten ins Banale und kalt Routinierte.

Das heulende Elend der beiden deutschen streikenden Antiknüller ist daher verständlich. Denn die Verwilderung der guten Sitten der Komposition, der Textdichtung und des Vortrages ist erschreckend weit gediehen. Einer weitum grassierenden erotischen Unreife der Zeit folgend, machen sich in der heutigen Schlagerproduktion jugendliche Aufschreie, Seufzer, Gurgler, ja, richtige Schnackerl irgendeiner Conny, Mina oder Margot breit. Sie inachen aus der Not eine Tugend, das heißt,sie erheben die Unausgebildetheit und Ungehobeltheit ihrer Sprache und ihres gesanglichen Vortrags zur angeblich beabsichtigten Pointe, zur Würze, zum Sexappeal.

Epidemischen Charakter hat ferner das einstmals auf der ganzen deutschsprachigen Bühne, ja in jeder ersten Klasse einer Schauspielschule verpönte Kehlen-„r“ angenommen — es ist im kultivierten Französisch heimisch, gilt aber in der deutschen Bühnen- Und Vortragssprache als Sprachfehler — und ist korrigierbar! Wer aber stößt sich heute schon daran, wer belehrt die männlichen und weiblichen Primadonnen des Schlagergesanges eines besseren?

Die hochgestochene Schlageransage einer bekannten Sprecherin des Wiener Rundfunks beispielsweise schmuggelt das „r“, das wie ,,ch'' klingt, auch in italienische Titel — obwohl der gebildete Italiener das schönste Zungen-„r“ der Welt spricht! Kein Wunder, daß daher auch jugendliche Schlagersänger nicht zum Meer hinunterlaufen, mit Kieselsteinen im Mund die Brandung übertönen und solcherart Sprechfehler ausmerzen, sondern mit ihrem Defekt noch kokettieren und ihre „Tausend Tchäume“ (soll heißen: Traume) hinausschmettern, daß Gott erbarmf

Dummheit statt Schlichtheit, Banalität statt Originalität in Text und Melodie, Mätzchen statt Geschultheit und Kunstübung im Vortrag, Schlamperei statt Unterspielen in der Mehrzahl der heutigen Schlager hat die beiden deutschen Ansager auf die Barrikaden getrieben — Dmge, die wir alle beobachten können, aber nicht unbedingt anhören müssen. Die beiden aber können' nicht wie wir-<iie*“barmherzfge Taste betMgen::'So beh sie' wenigstens nicht (wie es bei uns der Fall ist) jeden Schmarrn mit affektiert-hintergründigem Tonfall angekündigt, sondern mit der Faust auf den Tisch gehaut. Der Krach davon war weithin zu hören. Vielleicht nützt er.

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