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„Wer hat mein Lied so zerstört?“

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„Bitte, noch einmal! Ton ab!“, kommt die Anweisung des Produzenten aus dem Regieraum. Ein Schlager entsteht. Und zum einundzwanzigsten Mal müht sich ein Sänger, allein mit dem Mikrophon und dem Playback im Kopfhörer, mit einer Zeile wie dieser ab: „Mach doch die Augen auf, kann es denn schöner sein. Die Welt und was dazu gehört, ist nur für dich allein.“ Die Worte sind austauschbar. Doch irgendwann „kommt das Glück auch“ ins Studio, die Aufnahme ist „gestorben“, die Illusion per Achtkanal-Super-Stereo-Breitwand perfekt.

Der deutschsprachige Schlager fährt im internationalen Showexpreß in den hinteren Waggons mit. Dabei hatte er einst bessere Zeiten gesehen, und in den zwanziger Jahren durchaus internationales Niveau. Was aber heute von den Fabrikanten der Illusion einer heilen Welt, den Plattenfirmen, angeboten wird, nennt der Branchenkenner Hans Blum „Kartoffelmusik“. Besseres hat keine Chance unter Berufung auf den Pa-blikumsgeschmack, der angeblich immer genau weiß, was er will.

Die umgirrten Sängerinnen und Sänger, sie sind nicht mehr als Marionetten der Plattenfirmen; Leben und Stimme wird ihnen erst vom allgewaltigen Produktionschef eingehaucht. Ein Schlagerstar muß das von Werbefachleuten entworfene Klischee eines „Privilegierten auf seidenen Kissen“ leben, ohne Rücksicht darauf, ob es in Wirklichkeit so ist oder nicht. In der Regel ist es nicht so. Die Legende verschweigt, daß der Interpret nur zwischen 2 und 7 Prozent vom Plattenladenpreis erhält. Oft genug droht ihm arge Verschuldung. Von seiner Popularität sind viele abhängig: Plattenhersteller, Produzent, Handel, Verlag, Texter, Komponist, Studiomusiker und -techniker. In maßloser Profitgier schreckt man gar vor (verbotener) Kinderarbeit nicht zurück.

Es ist kein beneidenswertes Leben unter dem Streß der Hitparaden,, in denen über Erfolg und Mißerfolg eines Schlagers entschieden wird. Listige Public-Relations-Beauftragte spannen Netze aus zwischen Rundfunk, Fernsehen und Presse, auf daß die von ihnen „gepushten“ Platten darin hängenbleiben und über die Hitparade überhaupt erst in die Verbraucherohren kommen. Ist etwa ein Schlager erst einmal in der Hitparade, steigt der Umsatz zum Quadrat. Große Zugkraft besitzt außerdem immer noch das Radio, das bei der wichtigsten Zielgruppe der Schlagerpropagandisten, den 14 bis 19jähri-gen, an erster Stelle, noch vor dem Fernsehen, rangiert.

Obwohl die Mehrzahl der jungen Hörer Sendungen mit progressiver Musik vorzieht, wird fest versichert, man komme nur dem Willen des Hörers nach. Aber dieser Hörerwille wird ohnehin eingeschränkt, denn der Hörer vermag ja nur aus dem ihm vorher Gebotenen auszuwählen. Das ist wie eine rotierende Scheibe, die bloß geringer Anstöße bedarf, um sich noch schneller zu drehen.

Verlosungen und Preise mit Langspielplatten halten die Einschaltquote auf der Höhe. Fragen wie „Wird es ein Hit oder eine Niete?“ gaukeln Entscheidungsfreiheit vor. Sendungstitel wie „Trümpfe von morgen“ engen sie gleich wieder ein. Konsumfördernde „Tips für junge Leute“ garnieren die blauen Stunden des Feierabends. Familiär biedern sich die Transistorlieblinge mit Vornamen an: „Hier ist ein Mensch.“ Jedoch eine Vielzahl von Platten wird von Unterhaltungsredakteuren oder deren Familienangehörigen getextet. Wie war das doch mit dem Respekt vor dem Willen des Hörers?

Eine undurchsichtige Stellung in der expandierenden Freizeitindustrie nimmt der Diskjockey ein. Beruflich ist er irgendwo zwischen Journalist und Ansager einzuordenen. Tatsächlich ist er Erfüllungsgehilfe der Schlagerfabriken, deren marktschreierischer Agent. Berge von Post legen ihm nahe, nach unten das weiterzugeben, was ihm von oben eingeknüppelt wird. Schmal nur ist der Spielraum für ihn, Platten nach eigenem Geschmack aufzulegen. Diskjockeys mit Rückgrat sind an einer Hand abzuzählen.

Auch die deutsche Schlagerpres.se tut das Ihre zur Misere. Bei „Bravo“ beispielsweise beträgt der Anteil direkter Werbung 20,8 Prozent, die Starphotos (von der Industrie geliefert) nehmen 41,6 Prozent ein. Deutsche Popblätter sind keine Lesezeitungen, sie sind von geringem informativem Wert. Sie entsprechen in Aufmachung, Funktion und Inhalt den Schlagersendungen in Rundfunk und Fernsehen, eine Ausnahme macht höchstens „Sounds“. Interes-senverknotungen sind an der Tagesordnung. Der Herausgeber von „Popfoto“ und „Musikexpress“, Paul Acket, hat selber als Manager und Veranstalter mehr als 30 Popgruppen unter Vertrag. Seine Organe sind Werbebroschüren, für welche die Käufer noch bezahlen dürfen.

Schlagerfestivals haben die Funktion von Börsen der Plattenindustrie. Meist halten sie nicht einmal diesen seriösen Vergleich aus. Nicht Angebot und Nachfrage bestimmen den Schlagermarkt, es zählt allein, was nach Ansicht der Promoter in der Kasse zu klingeln verspricht. Die Juroren, von welcher „fachlichen“ Zusammensetzung auch immer, können nicht Musik ihrer Wahl küren, sondern doch nur das, was die Plattenfirmen ihnen zur Ausscheidung vorlegen. Die Interpreten haben kein Mitspracherecht, Disqualifikation droht beim schüchternsten Versuch.

„Wer hat mein Lied so zerstört?“ Alle miteinander: Produzenten, Interpreten, Medien, Handel. Und alle schieben sie den Publikumsgeschmack vor, der es angeblich nicht anders will. Des Volkes Stimme muß herhalten, grad wie's gefällt.

Trotz übler Praktiken kann die stereotype Behauptung, der Publikumsgeschmack sei seicht, nicht aufrechterhalten werden. Das zeigen Beispiele. Aber im allgemeinen haben deutsche Schlager auf die Verbraucher die Wirkung von Tranquilizern, rezeptfrei, in Form kleiner, runder, schwarzer Kunststoffscheiben.

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