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Vermassung oder Bildung

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Es ist nun bald dreißig Jahre her, seit die Ravag, das älteste österreichische Rundfunk-institut, ihre Sendungen aufgenommen hat, und man kann sagen, daß das Radioprogramm mit der Zeit zum umfassendsten aller Programme geworden ist. Es ist recht verwunderlich, daß ein solcher Aufwand an Gebotenem nach so langer Zeit noch immer nicht die Einführung einer allgemeinen, regelmäßigen und seriösen Kritik in der Tagespresse hervorgerufen hat (Ausnahmen bestätigen leider meistens die Regel); daß im Zeitungswesen noch immer die Figur des Fachmannes fehlt, der auf dem Gebiete der Radiodarbietung so zu Hause wäre, wie der ernst zu nehmende Musikkritiker im Repertoire seiner Sparte. Die Zeitung, die über Gut und Böse fast überall durch ihr suggestives Votum entscheidet oder mitentscheidet, scheint bis heute noch nicht verstanden zu haben, welche Wichtigkeit der täglichen Leistung oder Fehlleistung des Rundfunks zukommt, der uns doch mit seiner unheimlichen Reichweite überall, unaufhörlich und beinahe unabwendbar in den Ohren liegt.

Ob es sich nun um Klassikerabende, musikalische oder dramatische Uraufführungen oder um den Rundfunkvortrag eines auswärtigen Gelehrten von Weltruf handelt, — die gleichen Zeitungen reagieren kaum je darauf, die über die nämlichen Veranstaltungen lang und breit referieren würden, hätten sie anstatt vor hunderttäusenden Hörern in einem mittelgroßen, halbleeren Saal stattgefunden. Die oft gebrauchte Ausrede, alle Sendungen seien einmalig, jeder Hinweis auf sie komme also zu spät, ist eigentlich recht platt: Erstens ist auch jede anständige Theaterkritik eine Art Kulturkritik und nicht etwa Kundenwerbung, zweitens pflegen auch Konzerte, Rezitationsabende und wissenschaftliche Vorträge anderswo nur selten wiederholt, aber regelmäßig rezensiert zu werden.

Die führenden Männer des Rundfunks sind sich der im guten wie im schlechten eminent erzieherischen Wirkung jeder Sendung durchaus bewußt. Nicht umsonst wurde die vor kurzem abgehaltene fünfte Rundfunkwoche in Graschnitz durch einen Vortrag eingeleitet, der das soziologische Phänomen der Vermassung zum Thema hatte. v“oder das Buch, noch die Zeitung, und schon gar nicht das Theater- und Konzertsaalerlebnis, sondern das Radioprogramm ist heute das geistige Nahrungsmittel des Großteils der Kulturwelt. Die Richtung der weiteren Entwicklung — progressive Vermassung oder ' Wiedererstarkung der Persönlichkeit — wird also in hohem Ausmaß

davon abhängen, ob der Rundfunk immer wieder darangeht (und ob es ihm gelingt), den Einzelnen so anzusprechen, daß er sich als Geschöpf aufgerufen fühlt, daß das Individuum in ihm geweckt wird, daß er nicht jeder Parole gehorcht, sondern „Selbstdenker“ sein will, wie Kierkegaard es nannte. Die Programmleiter des Rundfunks haben es in der Hand, die Standardisierung des Menschen zu einem unwesentlichen Normaltyp voranzutreiben, den Schlager aus der Tanzlokalatmosphäre herauszulassen und ihn zum Volkslied der Saison zu machen. „Sex appeal, das ist mein Lebensziel“, tönt es gegen 22 Uhr aus zehn-tausenden Lautsprechern, glaubhaft vorgetragen, und mit diesem Gedanken geht der Hörer schlafen. Nun ist Sex appeal vielleicht eine Komponente, aber doch nicht das Lebensziel

normaler Menschen. Solche früh und spät geübte Darlegung einer Schlager-Weltanschauung macht den Erfolg sämtlicher Fünfzehnminuten-Sendungen für geistige Haltung illusorisch. Unterhaltung muß auch sein, selbstverständlich. Es ist aber ein bedenkliches Symptom von Kulturmüdigkeit, wenn man unter guter Unterhaltung einen Mangel an guter Haltung versteht.

Es läßt sich nicht einfach abgrenzen und sagen, was gespielt werden soll und was nicht. Giftmischergeschichten und andere Attacken auf die Nerven auf keinen Fall; es besteht ein großer Unterschied zwischen Rundfunk und Kino. Zum Schauerdrama und blutigen Sensationsfilm geht hauptsächlich einer, der eben leider an diesen Entspannungen von zweifelhaftem Wert bereits Gefallen gefunden hat. Am Lautsprecher aber hören Leute zu, die sich vielleicht auch eines Besseren besonnen hätten, die, nur durch Zufall, geradezu unfreiwillige Zuhörer solcher Dramen werden. Ausgenommen freilich sind Werke, bei denen die Wucht der Spannungsimpulse übertroffen wird durch das Gewicht einer bedeutsamen Form; denn die Form ist kein ästhetisches Drum und Dran, sie bestimmt den Eindruck, wenn sie genügend eindrucksvoll ist. Wegen des ungesunden Mo-

mentes der persönlichen Beängstigung sind auch die bloß aufreibenden Tendenzstücke gegen Diktaturen abzulehnen, naturalistisch exekutierte Wahnsinnsszenen, Hustkrämpfe von Schwindsüchtigen und keuchende Todeskampfdarstellungen, ferner Werke, die geistigen Defätismus verbreiten. Wir sind gerade flau genug, und darum schadet uns jede weitere Flaumacherei.

Publikum des Rundfunks ist in ständig steigendem Maße das ganze Volk. Beinahe jederzeit muß er mit allen Arten von Hörern rechnen: Reife Menschen können sich einschalten, Halbwüchsige und Kinder, gefestigte Leute und schwankende, gesunde und kranke, ja sterbende, fromme und gottlose, studierte und einfache, bedachtsame und leichtgläubige. Das alles und noch viel mehr muß (oder müßte) bei jeder Sendung erwogen werden, bei jedem Ernst und bei jedem Spaß, bei jeder weltanschaulichen Einseitigkeit, jeder Gehässigkeit, bei allem Leichtfertigen, bei jeder ernsthaft scheinenden Verstiegenheit und bei einem losen Witz zum Beispiel, bei jeder Dummheit und bei allem Klugen oder bloß Ausgeklügeltem ist zu bedenken, daß das den verschiedensten Leuten zu Ohren kommt.

Der Kardinalpunkt bei jeder Programmentscheidimg im Rundfunk ist also die Geschmacksfrage. Sie ist hier ebenso wichtig wie die Prüfung des künstlerischen, sachlichen oder fachlichen Wertes einer Sendung. Es ist schon ein Problem, ob allzu junge Lyriker, die mit den metaphysischen Instanzen tief erregte Beziehungen zu unterhalten glauben, vor das Mikrophon zu lassen sind. Denn woran ist in erster Linie zu denken: An die sogenannte Förderung eines Autors, der uns halt noch nichts Rechtes zu sagen hat, oder an die mögliche Yerblendung naiver Hörer durch die Anpreisung einer schrecklich nebulosen Weltanschauung? Bücherratschläge wiederum müßten stets wirkliche Ratschläge sein und keine getarnten Waschzettel. Man kann nicht sechs Werke hintereinander mit der gleichen Tonstärke loben. Wer lobt oder tadelt, muß Unterschiede machen, wenn er überzeugen will. Will man aber „nur referieren“, dann muß jedes Epitheton ornans wegbleiben. Auch eine Debatte über den Atheismus paßt nicht ins Studio. Das ist ein Gesprächsthema für einen geschlossenen Kreis, aber nicht für das unbestimmte und unbegrenzte Forum eines Senders. Interviews mit Künstlern brauchen sich nicht unbedingt im Austausch von Höflichkeitsphrasen zu erschöpfen, sondern sollen ein Thema haben und womöglich von Fachleuten geführt werden.

Volksbildung als das Unternehmen, die Verbindung zwischen dem Geist und der breiten Masse wiederherzustellen, nachdem sie jahrhundertelang auseinandergelebt haben, ist wohl eine Hauptfunktion des Rundfunks. Er muß im Ernst und im Lachen anstreben, ein umfassendes Kulturinstitut zu sein, nicht ein Automatenbüfett für beliebten Ohrenschmaus. Er muß uns alle ernst nehmen (auch die Unernsten), aber er darf uns nicht langweilen, er soll seine Hörer erheitern, ohne ihnen das Grinsen beizubringen, er soll in allem vorbildlich und erzieherisch wirken, und trotzdem niemals schulmeisterhaft sein.

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