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Mekka ohne Zensus

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Bei der Volkszählung, für welche die argentinische Regierung 500.000 Lehrer, Polizisten und Studenten eingesetzt hatte, ohne sie dafür zu bezahlen, bestand das Hauptproblem in der illegalen Einwanderung. Die

„Bestandsaufnahmen“ der Bevölkerung stehen in Argentinien unter einem ungünstigen Stern. Das Ergebnis der letzten, aus dem Jahre 1960, wurde erst acht Jahre später bekannt, und die Statistiker waren sich über ihre Unrichtigkeit einig. Gewiß gilt es heute nicht mehr — wie etwa im Jahre 1750 —, eine Bevölkerung festzustellen, die in Buenos Aires damals 10.233 Menschen betrug, unter ihnen zwei Anwälte, 21 Friseure, 75 Kaufleute, 72 Schuhmacher, 320 Soldaten und 1100 Sklaven. Die erste Volkszählung, die ganz Argentinien umfaßte, fand 1869 statt, in den seit damals verstrichenen 100 Jahren hat man immerhin den Computer erfunden, eine Zentralstelle für Volkszählungen bei der UN geschaffen und ein Handbuch für den „Volkszähler“ von 215 Seiten herausgegeben. Man hat auch das Wort „concubina“ („Konkubine“) durch „unida“ („Vereinte“) ersetzt, um keine Gefühle zu verletzen, und hat mit äußerster Klarheit festgelegt, daß die Angaben nur global verwertet und keineswegs, sei es der Polizei, sei es der Steuerbehörde, zugeleitet würden. Trotzdem muß man mit Fehlangaben von Hunderttausenden rechnen. Von 1914 bis 1947 ist die argentinische Bevölkerung von acht auf 16 Millionen angewachsen, aber von 1947 bis 1960 nur auf 20 Millionen, und man schätzt, daß sich bei der jetzigen Volkszählung eine Zahl von 25 Millionen Menschen in Argentinien ergeben wird. Von 1870 bis 1950 ergoß sich ein Strom von Einwanderern, besonders aus

Spanien und Italien, nach Argentinien. In den letzten drei Jahren, in denen immerhin 130.000 Europäer nach Australien und 117.000 nach Kanada zogen, kamen nur 4000 legal nach Argentinien. Lateinamerika ist aus einem Halbkontinent der Hoffnung zu einer Zone der Unruhe geworden. Inflation, Rezession und der Terrorismus lassen ihn wenig einladend erscheinen. Um so stärker ist aber die Wanderungsbewegung innerhalb dieses Gebiets. Zwar ziehen Wissenschaftler und Spezialarbeiter ersten Ranges nach den USA, nach Kanada oder Australien. Aber für die Masse gelernter und ungelernter Arbeiter aus Chile, Paraguay, Bolivien und Uruguay ist Argentinien immer noch ein Mekka. „Man findet keinen Bau in Buenos Aires“, sagte mir ein befreundeter Ingenieur, „auf dem nicht uruguayische Handwerker arbeiten“. In die Grenzzonen sind Arbeitslose gezogen, die in Argentinien als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Viele von ihnen wandern dann in die Großstädte weiter, in deren Randsiedlungen sie ein prekäres Dasein fristen. Man schätzt ihre Zahl in den „Villas Miseria“ von Buenos Aires auf eine Million. Aber da sie meist illegal ins Land gekommen sind und auch ihre Papiere nicht in Ordnung gebracht haben, werden sich Hunderttausende der Feststellung bei der Volkszählung entziehen.

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