Thema: Gottes Gericht
Als Kind ängstigte mich die Geschichte vom „Großen Weltgericht“ (Mt 25, 31–46). Ich fürchtete mich vor dem fremden Herrn auf dem Thron, der Schafe in den Himmel und Böcke in die Hölle schickt. Zwar fand ich auch, dass man durstigen Menschen zu trinken geben und Gefangene besuchen sollte. Aber würde man mich tatsächlich ins ewige Feuer werfen, wenn ich nur ein einziges Mal unaufmerksam sein würde?
Als Jugendliche ging ich zur Revolte über: Soll Gott uns doch klipp und klar sagen, was wir zu tun haben, statt Verstecken zu spielen. Zuerst schafft er uns als freie Menschen. Und dann kommt er, wenn es für uns längst zu spät ist, daher, und maßt sich ein Urteil über uns an. Soll er doch Klartext reden, ob er uns nun „bedingungslos liebt“ (wie der Pfarrer immer so schön sagte) oder ob er ein Sadist ist.
Als Erwachsene gestand ich mir ein: Gott hat uns klipp und klar gesagt, was wir zu tun haben: Du sollst nicht töten (Ex 20,13). Du sollst nicht stehlen (Ex 20,15). Du sollst deine Nächsten lieben wie dich selbst (Lev 19,18). Du sollst deinen Feind lieben (Mt 5, 44) ... Und ich fing an zu begreifen: Wer Hunger hat, während andere in exklusiven Penthäusern mit Champagner auf Millionengewinne anstoßen, wünscht sich Gott als Richterin. Wer, mit Universitätsabschluss in der Tasche, als Klofrau arbeitet, bloß weil sie keinen EU-Pass besitzt, kann nicht wollen, dass Gott die Damen, die herablassend ein Fünf-Cent-Stück liegen lassen, „bedingungslos liebt“.
Es kommt darauf an, wer wann wo wie über das göttliche Gericht spricht. Und einen Gott, der keine Unterschiede macht und uns nicht zurechtbringt, können wir uns nicht im Ernst wünschen.
Und so sollten wir es auch unseren Kindern weitersagen. Damit sie sich ohne Furcht hineinnehmen lassen in die Recht schaffende Beziehungsmacht.
* Die Autorin ist Germanistin und evang. Theologin in der Schweiz
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