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Mutter, Kind, Krieg

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Wäre Henry Moore nicht Bildhauer gewesen, hätten nicht seine Zeichnungen zunächst einmal Werkstattcharaktergehabt-er stünde dann heute eben in der ersten Reihe der Graphiker des 20. Jahrhunderts. Und wäre, auch ohne das plastische Werk, die singulare Erscheinung in der englischen Kunstseiner Zeit. Beeindruckender und „stimmender” als Henry Moore in den „Shelter Dra-wings” hat kein bildender Künstler Schrecken und Leiden der Zivilbevölkerung im Bombenkrieg Ausdruck gegeben.

Als die deutschen Angriffe, die Engländer sagten „blitz” dazu, einsetzten, verbrachten bald zehntausen-de Londoner ihre Nächte in den tiefen Stationen des U-Bahn-Systems. Die im Londoner Untergrund schlafenden Menschen wurden für Henry Moore zum existentiellen Erlebnis, sie rückten für Jahre in den Vordergrund seines Interesses - zumal die Moores ihr Haus mit Atelier, das in Kent in einem militärischen Sperrgebiet lag, hatten verlassen müssen. In vielen „Shelter

Drawings” liegen die Menschen wie unter Netzen, Netzen der Angst - es sind großartige Zeichnungen von höchster Ausdruckskraft, Höhepunkte der Graphik dieses Jahrhunderts.

In dem Buch „Henry Moore, Ursprung und Vollendung - Gipsplastiken, Skulpturen in Holz und Stein, Zeichnungen” sind die „Shelter Drawings” allerdings nicht vertreten. Dem Konzept der Ausstellung entsprechend, zu welcher der Band erschien, enthält er ausschließlich im engsten Wortsinn eigenhändige bildhauerische Werke, also beispielsweise Studien und Gipsmodelle zu Bronzefiguren, nicht aber die gegossenen Werke selbst. Sowie Zeichnungen im konkreten Zusammenhang mit bildhauerischen Arbeiten. Doch beim Blatt „Studien liegender Figuren” stutzt der Leser. Meint, ein „Shelter Drawing” vor sich zu haben (siehe Abbildung). Tatsächlich handelt es sich um eine Zeichnung von 1940, vor den Bomben, im engen formalen Zusammenhang mit Moores liegenden Figuren der vorangegangenen Jahre.

Ein faszinierendes Phänomen: Die Technik, mit der Henry Moore verar-

beitete, weis er in der Zeit der Bombenangriffe in den nächtlichen U-Bahn-Stationen sah, das Formale dieser Zeichnungen, hatte sich bei ihm längst vorbereitet. Man könnte sagen, daß da die Wirklichkeit einer vorgebildeten Form plötzlich den Inhalt gab. Doch das wäre nur die halbe Wahrheit. Denn auch eine wesentliche innere Komponente der Kriegswirklichkeit war bei Henry Moore längst da, hatte schon seit langem sein Interesse. Und genau dies belegt der vorliegende Band, ohne daß dazu die U-Bahn-Zeichnungen selbst notwendig wären.

Seit jeher hatte die Beziehung zwischen Mutter und Kind Henry Moore

besonders fasziniert. Kein Thema kehrt, neben der liegenden weiblichen Figur, öfter in seinem CEvre wieder. Kaum einer verstand es wie er, selbst noch in der weit vorangetriebenen Abstraktion das Fjnotionale dieser Beziehung fühlen zu lassen. Nicht zuletzt dies macht die Humanitätseiner Kunst aus. Nach dem existentiellen Erlebnis des Krieges, den Moore sehr stark als Leiden und Gefahr für Mutter und Kind erlebte, sind das Schützende, das Bergende und das Geborgene auf der einen Seite, und das Bedrohende, der Krieg, der Krieger in seiner Ambivalenz von Angriff und Verteidigung die Pole seiner Arbeit. „Möglicherweise

steht die Figur emotional (wie es ein Kritiker andeutete) mit meinen Gefühlen und Gedanken über England während des kritischen ersten Teils des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang. Die Haltung des Schilds und sein Winkel gewähren Schutz von oben” schrieb er 1955 in einem Brief über einen seiner „Krieger mit Schild”.

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