ganz dicht

Semier Insayif: Von der Kunst abzubiegen und im Alltag zu schweben

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Wenn die Poesie im Alltäglichen eine unentdeckte Öffnung erzeugt: Zu Gedichtbänden von Martina Jakobson und Mario Hladicz.

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Wenn die Poesie im Alltäglichen eine unentdeckte Öffnung erzeugt: Zu Gedichtbänden von Martina Jakobson und Mario Hladicz.

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„Hier biegen wir ab“, so lautet der Titel des Gedichtbandes von Martina Jakobson und dieser Titel trifft sowohl die äußere Schale als auch einen wesentlichen inneren Kern des Buches. Einerseits durchstreifen die 56 reimlos, metrisch ungebundenen, in drei Kapiteln versammelten Gedichte, Landschaften des Burgenlandes in ruhiger Präsenz und stellen so, mit intensiver Bildhaftigkeit, die äußere Grundbewegung dar. Da heißt es z.B. „wir erkunden das Weizenfeld/zerreiben Körner/ zwischen den Fingern//über den Streifen aus Hellblau/Erde und Schorf/ “.

Andererseits benennt der Titel auch einen inneren Wesenskern des Buches, da das Abbiegen ein präzises poetisches Verfahren darstellt, nämlich an fokussierten Objekten oder Momenten mit assoziativen Sprüngen mühelos abzubiegen, und so an entfernten Orten der Erinnerung oder der Phantasie zu landen. „zwei Mädchen 9 Jahre vielleicht/pompös um die Köpfe/geschlungene Handtücher/…/Römerinnen mit Krügen/die Luxemburg mit Federhut/Pop-Sängerinnen mit Turmfrisur/ Helmut-Newtons hohe Mädchen /Ärztinnen mit Schutzhelm und Visier/die Holzbrücke ist ihr Laufsteg/“. So werden Natur, Kindheit, Vergangenes, Beobachtetes, Politisches, Gegenwärtiges und Humorvolles ineinander verwoben, überblendet und in Schwebe gebracht.

„Let all be simple“ lautet das Zitat von Charles Simic, das den 73 Gedichten im Lyrikband „Tag mit Motte“ vorangestellt ist. Und der Dichter Mario Hladicz weiß dieses Zitat mit außerordentlicher Behutsamkeit und zartem Humor in Leichtigkeit zu übersetzen. Es finden sich in den drei Kapiteln feine Beobachtungen alltäglicher, scheinbar nebensächlicher Ereignisse, die unprätentiös und unaufgeregt daherkommen. Aber mit jedem Flügelschlag werden diese durch eine besondere poetische Beleuchtung in ein eigenwillig zart bis zärtliches Schwirren versetzt. „/du lässt Steine übers Wasser hüpfen/bald schon entziehen sie sich dem Blick/vielleicht springen sie immer weiter/hinaus aus der Stadt dorthin wo man/Verständnis für ihre Verschwiegenheit /hat …“.

Mal sind die Gedichte narrativ oder szenenhaft, manchmal mit melancholischem Augenzwinkern wie in dem kurzen 4-Zeiler mit dem Titel „Drama auf vier Zeilen“: „So oft an sie gedacht dass sie/ihres permanenten Schluckaufs wegen//langsam vereinsamte/…“. Durchwegs ungereimt und ungebunden entfachen sie ihren Zauber in einem besonderen Blick, einem unerwarteten Gedanken, in dem die Poesie im Alltäglichen eine unentdeckte Öffnung erzeugt. Im Gedicht „Mittwoch“ heißt es: „Was würde man geben für eine Tür/um hinauszutreten aus diesem Tag“.

„ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 12.10.2023) Lyrik vor.

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