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Das verbannte Gewissen

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Was während des Interviews, das die Schweizer mit Alexander Solschenizyn aufgenommen hatten und das der ORF jüngst ausstrahlte, zuerst auffiel, war der Tonfall. In der Sprachmelodie fehlte völlig jene Nuance heimtückischer Gemütlichkeit, die uns von den Ansprachen sowjetischer Politiker her im Ohre klingt und die wir deshalb, offenbar sehr zu Unrecht, für unvermeidlich ge halten hatten. Schlagartig verstand man, warum Solschenizyn zwischen sowjetischer und russischer Literatur unterschied.

Das zweite waren die verwüsteten Hände. Der zerquetschte Daumen an der Rechten, den er zu verbergen suchte, und die Spuren uralter Frostbeulen, die sich nicht verbergen lassen und die bereit sind, beim geringsten Anlaß wiederzukehren. Lebhafte Hände, zum Schreiben erschaffen, aber jahrelang zu Arbeiten verdammt, die außerhalb der klassenkämpferischen Sklavenhaltergesellschaft längst von Maschinen erledigt werden.

An dem mächtigen Haupt mit der Stirnnarbe, das einen gedrungenen, aber eher schmächtigen Körper beherrscht, fielen als Drittes die Augen auf. Alexander Solschenizyns Augen sind heiter.

„Mutter, warum sind die Augen dieses Mannes wie schwarze Kohlen?” soll ein Kind in Ravenna gefragt haben, als der gealterte, aus Florenz verbannte Dante- Alighieri vorüberging. i,Weil seine Augen die Hölle ge*c schaut haben”, antwortete, so wird berichtet, die Mutter. Solschenizyns Augen haben die Hölle geschaut, aber sie sind nicht wie schwarze Kohlen, sondern wasserhell, sehr russisch, und hinter ihnen wartet sprungbereit, ein wenig resigniert und bitter, aber unbesiegbar und unwiderstehlich die Heiterkeit des Christen, der wider alle Hoffnung hofft. Vielleicht hatte einst der russische Christ Nikolaus Gogol solche Augen. Heiter bis in die letzten Stunden seines mühsamen Todeskampfes hinein blieben ja auch die Augen des verbannten Kaisers Karl.

Der Unterschied kommt wohl daher, daß Dantes Verbannung aus Florenz und die wahnwitzige Drohung mit dem Feuertod im Falle seiner Rückkehr bis ins letzte hinein absurd und historisch sinnlos waren. So konnte Dante nicht völlig unberechtigt die Vaterstadt mit jenen ungeheuren Terzinen aus der Divina Commedia verfluchen, die jeder gebildete Italiener immer noch zu rezitieren weiß. Aber wenn Völker ihr Gewissen aus dem Lande verbannen, wie dies mit Kaiser Karl und mit Alexander Solschenizyn geschah, dann hat dies seine geschichtliche Schwerkraft und trägt Folgen.

Auf den Knien baten später die Florentiner, man möge ihnen die Gebeine Dantes zurückgeben, aber ihr verbanntes Gewissen blieb in Ravenna bestattet. Kaiser Karls Leichnam bleibt auf dem Monte, nahe seiner „allzeit getreuen Stadt Funchal”. Tatsachen werden im Laufe der Jahrzehnte zu bleibenden, unauslöschlichen Zeichen.

Möge Alexander Solschenizyn nicht zum Zeichen werden, sondern zum Übergang. Möge ihm eine Rückkehr in die geliebte Heimat nicht erst nach dem Tode, sondern zu Lebzeiten beschieden sein. Später wäre es — vielleicht — zu spät!

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