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Europa - Vaterland der Russen?

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Leningrad heißt also jetztwieder Sankt Petersburg. Das ist der deutsche Name, den diese Stadt ursprünglich erhielt. Die Bürger entschieden sich für diesen Namen in einer Abstimmung, und vage Erinnerungen an lange verschüttete russische Traditionen tauchen auf.

1838 zum Beispiel schrieb der 17jährige Fjodor M. Dostojews-kij an seinen Bruder, er habe nun den ganzen E. T. A. Hoffmann russisch und deutsch gelesen und fast den ganzen Balzac. Dazu Goethes Faust und Victor Hugo. Dostojewskij besuchte damals die Ingenieurschule der Militärakademie in St. Petersburg. Zusammen mit Polen und Baltendeutschen. Zwei Jahre später bekennt er sich dem Bruder gegenüber als emphatischer Schiller-Verehrer: „Ich habe Schiller auswendig gelernt, habe in seiner Sprache gesprochen und in seinen Bildern geträumt...”

Auch das war Rußland. Und in diesem Rußland wurde der Vater des 18jährigen Dostojewskij, ein Gutsbesitzer und Saufbold, von seinen Leibeigenen erschlagen.

Leningrad heißt wieder St. Petersburg, und es scheint, als ob die Auseinandersetzung Rußlands mit dem Westen nun auf einer anderen Ebene weitergeführt würde. Alexander Solsche-nizyn hat das ja immer getan -durchaus in der Tradition Dostojewskijs, dessen russischer Messianismus sich gegen den

Westen wandte. Wahre Brüderlichkeit wollte er, Freiheit in der Vereinigung durch Liebe - nicht durch die Guillotine, „nicht durch Millionen gefällter Köpfe”.

Dostojewskij sah in Deutschland die protestierende Nation, „dieses Volk, das ungewöhnlich selten siegte, dafür aber bis zur Seltsamkeit oft besiegt wurde”. Er betonte in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers”, daß sich die Russen nicht lossagen könnten von Europa: „Europa ist uns zum zweiten Vaterland geworden... Europa ist uns allen fast ebenso teuer wie Rußland...”

Rußland als Wegweiser einer neuen Epoche. Dostojewskijs „Allmensch” mußte dann der menschenmordenden Ideologie des Kommunismus weichen. Denn im Westen werden die Ideen geboren und der Osten versucht, sie ins Leben umzusetzen - notfalls mit vernichtender Konsequenz.

Die Russen drängen ins „gemeinsame europäische Haus”. Junge Leningrader, so heißt es, schwärmten wieder für Deutschland, das seine Niederlage im zweiten Weltkrieg in einen wirtschaftlichen Sieg ummünzte. Im Nationalsozialismus und im Bolschewismus berührten sich die Extreme. „Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945” nannte der Historiker Ernst Nolte sein umstrittenes Buch, mit dem er den deutschen Historikerstreit auslöste.

Was kommt nach diesem Bürgerkrieg?

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