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Gibt es Grenzen ?

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In der zweiten Märzhälfte erhält Stanislaw Lern den österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Lern, der derzeit in Wien lebt, ist weltweit bekannt durch seine phantastischen Romane, die die Konstruktionen und Fehlkonstruktionen des technischen Zeitalters mit Witz und Ironie ad absurdum führen. Als ein Autor des Technologie-Bewußtseins sieht er jedoch die Grenzen. Er denkt voraus. In der Maske des Literaten erstellt er Diagnosen.

Uber Science-fiction-Literatur macht er sich allerdings lustig.

Lern meint, das sei milde gesagt: „Ich hasse sie. Das ist eine Geschmackssache. Als Knabe habe ich Poe und Herbert George Wells gelesen; das hat mir mächtig imponiert. Ich habe nicht gedacht, daß ich so etwas schreiben werde. Erst in den fünfziger Jahren habe ich angefangen, Science-fiction — zuerst die amerikanische — zu lesen, habe aber mit Bedauern festgestellt, daß es in meinen Augen Müll war. Müll aus dem Laboratorium. Science-fiction besteht darin, daß die Autoren die reale Welt nicht betreffende Probleme ausdenken und diese dann lösen. Mich aber interessiert die reale Welt, das Unvoraussagbare der Zivilisationsgeschichte. Ich möchte belehrt werden; ob mit phantastischen oder realistischen Mitteln, ist nebensächlich.“

„Zwischen der Masse und der Qualität der Science-fiction-Literatur gibt es eine umgekehrte Proportion“, sagt Lern. „Zuerst gab es durchaus Versuche, sich mit der realen Welt zu beschäftigen, dann aber ist Science-fiction in die Richtung der platten und sekundären Märchen abgeglitten. Für mich ist das Maß die wissenschaftliche Publikation. Wenn ich zum Beispiel die Zeitschrift .Scientific American' in die Hand nehme, weiß ich, daß tatsächliche Probleme berührt werden. Für mich ist Science-fiction ein Bündel von Hypothesen, die in der wissenschaftlichen Diskussion nicht vorkommen.“

Lern bleibt im Bereich des Möglichen, er lehnt eine Prognose von Weltzuständen grundsätzlich ab. Doch kann sich erweisen, daß utopische Literatur, wie etwa im Falle Jules Verne, reale Zustände vorwegnimmt. Lern schätzt auch phantastische Literatur, wie sie in Österreich Tradition hat, zum Beispiel das Werk von Herzmanovsky-Orlando.

Im Sinne der Vorwegnahme wissenschaftlicher Themen hat sich Lern seine eigene Bibliothek geschrieben: die „Mikrobibliothek des 21. Jahrhunderts“.

„Wenn man schon eine Welt darstellt, muß man über Fachliteratur verfügen“, sagt Lern. „Eine ganze Bibliothek konnte ich nicht verfassen, also beschränkte ich mich auf Rezensionen nicht erschienener Werke. Das waren meine Quellen. Man kann — allerdings nur winzige — Spuren in .Lokaltermin' wiederfinden.“

Warum, so fragt man sich, schreibt Lern über die Zukunft, wenn er die Gegenwart analysieren will? Lern verweist auf die „Philosophie des Zufalls“:

„Die Gegenwart hat solche Ausmaße in Beschleunigung und Wandel, daß man die Proportionen nicht übersehen kann, wenn man nicht eine große Entfernung hat. Dann ist das aber schon die freie Wahl des Schriftstellers. Die Gegenwart ist etwas Vorbeifliegendes. Um sie zu betrachten, braucht man eine große Zeitperspektive, in der man das Wichtigste sieht. So wie man die Pyramiden sieht — das Markanteste aus der Zeit der Pharaonen.“

Lern blickt mit großer Ruhe in die Zukunft. Und das, obwohl er angesichts der technologischen Eigendynamik keine Grenzen des Wachstums sieht. Nachdem solche Grenzen überschritten wären, müßte das Chaos kommen. Ein Jahr vor der wirren und ängstlichen Stimmung des Jahres 1984 erschien Lems köstliches Buch „Wie die Welt noch einmal davonkam“.

Gewiß kann es ein Ende der Geschichte geben“, sagt Lern. „Das Schema Anfang-Mitte-Ende entnehmen wir allerdings lediglich der Erzählkonvention. In der Geschichte aber gibt es nur den Wandel der Jahrhunderte. In kosmischer Dimension gibt es natürlich Katastrophen. Der Menschheit scheint das Schicksal bestimmt zu sein, ,sich durchzuwursteln'. Wir werden schwerlich so herrliche Veränderungen erleben, daß sich Menschen zum Beispiel in Engel verwandeln. Es gibt noch einen anderen Grund, nicht über Katastrophen zu reden. Am Bett eines Todkranken hat ein Arzt nichts zu suchen; höchstens ein Geistlicher ist dort am Platz. Ich spiele die Rolle des Mediziners. Die Menschheit ist ein schwerer Fall, aber nicht hoffnungslos. Würde das Ende nahe bevorstehen, würde ich kein Buch schreiben, sondern das Leben einfach genießen. Ich versuche, die Extreme zu vermeiden.“ Lern weiß, daß heute derjenige radikal ist, der für eine gemäßigte Position eintritt.

Das ergibt sich schon daraus, daß Lern eine Freude an der technologischen Welt vermittelt, die mit dem Ernst unserer Tradition nicht ohne weiteres in Einklang steht.

„Ich bleibe in der Welt, aber ich versuche, das Spiel von außen her zu betrachten. Das ist sicherlich nicht leicht.“

Der Autor ist Lektor an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien.

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