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Phantasie und Utopie im Kino

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Es mag erstaunlich oder befremdlich anmuten, stimmt aber nachweisbar: Der österreichischen Mentalität liegt das Phantastische fern — was durch den geringen Verkauf von Science-fiction-Literatur und phantastischen Romanen ebenso wie durch den schwachen Konsum dieses Genres im Medium Film eindeutig bewiesen wird (die Ausnahmen im Roman — Kafka in bitter-satirischer Darstellung einer „Obrigkeit“ oder Herzmanovsky-Orlando in persiflie-rend-karikaturistischer Groteske, der österreichischen Form der phantastischen Literatur — bestätigen dies auch auf schöpferischem Gebiet!). Im Gegensatz zum Engländer beispielsweise, dem überhaupt die Magie des Unheimlichen viel näher liegt, zum Amerikaner, der die kühne Utopie der Technik ebenso wie den Horror liebt, oder zum Deutschen — zumindest der früheren Generationen —, den die Dämonie der Seele tief beschäftigte, ist der Österreicher mehr den „greifbaren“ Dingen des Lebens zugewandt (gibt es überhaupt einen einzigen phantastischen österreichischen Film, aus österreichischer Sicht geschaffen?). Science-fiction wird als nicht erns'tzuneh-mender Unsinn abgetan, der Horror als (bestenfalls) unwürdiges Jahrmarktspektakel der Geisterbahn und das Phantastische als „Spinnerei“ — sind wir glücklich zu nennen, aus diesen Gründen? Oder fehlt uns etwas?

Dies als Einleitung zu einem Bericht über ein alljährlich stattfindendes Filmfestival, von dem man bei uns kaum — nicht einmal in Fachkreisen — Notiz nimmt: Das „Festival internazkmale del Film di Fantascienza“ in Triest, das heuer bereits zum 12. Mal stattfand und eine gar nicht so geringe Anzahl ausländischer Filmkritiker und natürlich auch Liebhaber dieses Genres versammelte; die Vorführungen finden stets in nächtlich-dunkler Stunde im “großen Hof des Castello di San (Giusto statt, meist, wenn das Wetter nicht einen (glücklicherweise seltenen) Streich spielt, unter einem strahlenden südlichen Sternenhimmel ... Und da fliegen nun 10 Tage lang Raumschiffe über die Riesenleinwand, Planeten, Sternsysteme und Galaxen verbinden sich nahtlos mit den echten des funkelnden Himmels darüber zu einer strahlenden Kuppel — und manchmal auch bevölkern grausige Monstrositäten und Mutationen die Projektionsfläche oder ziehen phantastische Visionen und Träume die nächtlichen Zuschauer in ihren Bann. Darum wäre der Titel dieser Filmwoche auch mit „Science-fiction-Filmfestival“ falsch übersetzt: „Fantascienza“ ist weit mehr, weniger abgegrenzt, behandelt nicht nur die (klassische) wissenschaftlich-technische Utopie, sondern alles, was mit Phantastik zu tun hat, dem „Stoff, aus dem die Traums sind“ — und off wird auch auf „Scienza“, die Wissenschaft, dabei verzichtet (und dann ist es meist unterhaltsamer!).

Man sollte dies Gebiet also nicht verächtlich abtun: Welches andere künstlerische Medium (sieht man eben von der Literatur ab) als der Film ist imstande, Träume bildhaft werden zu lassen, Unwirkliches darzustellen und Phantastisches lebendig zu machen? In diesem Sinne ist das Genre des Phantastischen (und wir wollen, mit gewissen Einschränkungen, Science-fiction darin einbeziehen) Ur-Kino, eine Domäne, die einzig dem Film überlassen ist, daher Grund- und Hauptgebiet dieses Mediums (ich würde lieber sagen: dieser Kunstgattung).

Und so bekam in diesem Jahr in Triest ein polnischer Film den Hauptpreis zugesprochen, dessen Preisverdienst keine Konkurrenz besaß: „Sanatorium pod Klepsydra“ (Sanatorium zur Wasseruhr — wörtlich, doch nicht schön übersetzt) von Wojciech J. Has, dessen nicht weniger phantastisches Opus „Die Handschrift von Saragossa“ wir erst kürzlich (leider nur) im Fernsehen bewundern konnten (wie wirkt dieser Film erst im Kino auf großer Leinwand!); der mit dem „Goldenen Asteroiden“ ausgezeichnete Streifen ist nicht zu beschreiben, seine Handlung nicht zu schildern: Das Drehbuch, eine Form von Selbstbewußtseinssuche ä la recherche du temps perdu, von der bruchstück- und sprunghaften Irrealität von Träumen bestimmt, ist auf Prosawerken von Bruno Schulz aufgebaut, einem der interessantesten polnischen Schriftsteller ■ der Vorkriegsära. Verschiedene Zeitebenen laufen ab, die Geschichte spielt in einem imaginären 13. Monat und Geisterhelden aus der Geschichte und Abenteuerliteratur vermischen sich mit realen Gestalten aus der Vergangenheit der Hauptpersonen ... Und selbst wenn man, von der vielgestaltigen Fülle verwirrt, nicht mehr zu folgen imstande ist, so fasziniert das meisterhaft gestaltete Werk durch seine ebenso kühnen wie originell-genialen Bildvisionen. Ein Film für die nächste Viennale!

In anderem Sinn sehenswert war der amerikanische „klassische“ Science-fiction-Film „Darfc Star“ von John Carpenter (Produktion: Jack Harris), der die einsame Zeitreise von vier Astronauten des 22. Jahrhunderts ebenso originell wie auch humorvoll erzählt; an „Doktor Strangelove“ ebenso wie an Kubricks „2001: Odyssee im Weltall“ und auch Becketts „Warten auf Godot“ orientiert, gehört diese kühne Traumfahrt zu den sehenswerten Werken seines Genres (wollen wir wetten: Kein österreichischer Verleih wird ihn zu bringen wagen!). Die drei anderen amerikanischen Beiträge, „It's Alive!“ (Es lebt!) von Robert Cohen — immerhin mit John Ryan („Nigger Charly“, „Treffpunkt Centrai-Park“ u. a.) in der Hauptrolle, der auch mit einem „Silbernen Asteroiden“ als bester Darsteller ausgezeichnet wurde —, ein AntiPillen-Sehocker, „The Doomsday Machine“ (Die Maschine des Jüngsten Gerichts) von Lee Sholom und „The Crazies“ (Die Verrückten) von George Romero, eine blutrünstige Warnung vor biologischen Kriegsführungsexperimenten, waren eher B^Produktionen und dem Genre des „Horror-Thrillers“ zugehörig.

Erwähnt man noch zum Schluß den pseudo-mtellektuellen deutschen Beitrag „Die phantastische Welt des Matthew Madson“ von Helmut Herbst, eine aufgeblähte Kluge-Seifenblase, den — eindeutig für den Export in den Westen bestimmten (siehe die Monsterbesetzung mit Sergej Bondartschuk und Irina Skobzewa) — aufwendigen sowjetischen Holzhammer-Tendenz-Film „Das Schweigen des Dr. Ivens“ (besitzen denn die Russen wirklich keinen einzigen, noch so winzigen Funken Humor? Es ist zum Weinen, dieser tierische Ernst!) und die leider auch sehr trockene und enttäuschte tschechoslowakische Roboter-Persiflage „Sleöna Golem“ (Fräulein Golem) mit Jana Brejchovä und wirklich hervorragend gelungenen Doppelgänger-Trickszenen, so rundet sich dennoch auch trotz einiger schwacher und enttäuschender Beiträge bei diesem originellen Filmfestival in Triest ein Bild über die Entwicklung und den Stand des phantastischen Films der Gegenwart ab, über das man zumindest in Fachkreisen orientiert sein sollte — und das auf jeden Fall dem Kinopublikum nähergebracht zu werden verdient.

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