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Amerikas ritterliche Urbewohner

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Oliver La Farge hat als dichterisch begabter Erzähler und als gelehrter Amerikanist in seiner Heimat, den USA, einen guten Namen. Anthropolog und Archäo-log vom Fach, war er besonders dazu berufen, ein den breiten Leserschichten zugängliches Werk über die Urbewohner der Vereinigten Staaten zu geben. Dieses Buch, im Original „A Pictorial History of the American Indians“ betitelt, liegt in einer deutschen Übersetzung vor. Es ist stoffreich und originell. Selbstverständlich weicht es von den Klischees ab, die, sei es in der Art Coopers und Karl Mays, ein Idealbild der edlen Wilden zeichnen, die doch die besseren Menschen sind, sei es, aus diesen Naturkindern blutrünstige Raubgesellen zu machen, die auszurotten Pflicht und Recht der weißen Zivilisatoren war. La Farge bietet uns ein allseitiges Bild von Kulturen und Halbkulturen, die auf amerikanischem Boden herangereift sind und die eine erstaunliche Tiefe, eine verwirrende Reichhaltigkeit aufweisen. Dabei berührt er nicht die eigentlichen Hochkulturen des mittleren und südlichen Amerika; wir erfahren nur von den Ausstrahlungen der mexikanischen Zivilisation. Innerhalb des so abgegrenzten Raumes unterscheidet der Verfasser mehrere Kulturkreise, deren Sonderart wesentlich durch Klima, Bodenbeschaffenheit und Pflanzenwelt bestimmt ist. Seine farbige und gar sehr vom Ton deutscher Gelehrsamkeit abweichende Darstellung ist um so willkommener, als wir nur e i n Werk besitzen, das demselben Thema gewidmet ist, doch dem Unzünftigen weniger Reiz bietet; die Arbeit von W. Krickeberg in Bernatziks Großer Völkerkunde (1939). Die englisch dargebotenen Bücher von J. Swanton, C. Wissler, P. Radin, samt dem noch sehr nützlichen, von F. W. H o d g e herausgegebenen

„Handbook of American In-dians North ofMexic o“, und der langen Reihe der durch die, auf Indiani-stik spezialisierte Unversität von Oklahoma veröffentlichten Monographien, sind ja dem nicht fachkundigen deutschsprachigen Leser wenig zugänglich. La Farge weiß nun wissenschaftlichen Ernst, gründlichste Beherrschung der Materie mit anmutiger Schilderung zu vereinen — die Übertragung bleibt uns manches vom Zauber des Originals schuldig —, und der Laie bemerkt kaum, daß und wieviel Ergebnisse eigener Forschung der Autor, oft in ein paar Sätzen, vorlegt.

Wenn La Farge nur selten einzelnen Gestalten der indianischen Geschichte mehr als flüchtige Aufmerksamkeit widmet oder von diesen großen Männern nur den Namen nennt, so beschäftigt er sich dafür eindringlich mit den Kollektivphänomenen der Kultur. Besonders anziehend und aufschlußvoll sind seine einfühlsamen Darlegungen über Religion, Philosophie, über Musik, Malerei und Bauweise der Indianer, über ihr Kunstgewerbe, über Kleidung und Hausgeräte jener „Wilden“, die teils sich eine eigene Kultur bereits errungen hatten, teils auf dem Wege waren, das zu tun, als sie durch die rücksichtslose Invasion brutaler Landräuber, die ihnen im Gemüt und an seelischer Substanz weit unterlegen waren, verdrängt, ausgerottet oder wenigstens in Armut und Verachtung geschleudert wurden. La Farge liebt seine Indianer, und er holt alle Argumente zusammen, die das rechtfertigen; doch er ist weder verblendet, noch einseitig. Er verhehlt nicht die düsteren Seiten des Charakters der nordamerikanischen Urbewohner.

Er preist ihren Sinn für Metaphysik und ihr Naturgefühl, ihre Treue zum Stamm und zur Überlieferung, ihre Gastfreundschaft und ihre Freigiebigkeit, ihre Anhänglichkeit an die Familie, ihre Gewandtheit und ihren natürlichen Anstand. Wir sehen vor uns ein Bild, das als ritterlich zu bezeichnen ist. Dazu passen auch die Schattenseiten: Grausamkeit, Gefühlsroheit gegenüber als minderwertig Betrachteten, Leichtsinn. Tapferkeit, zähe Ausdauer, List und Arglist, scharfe Beobachtungsgabe sind den Indianern mit allen im Kampf ums Dasein sich behauptenden Völkern gemeinsam. Doch die Neigung zum Zeremoniell, die hierarchische Gliederung der Gesellschaft, die bei den kulturell am meisten fortgeschrittenen Stämmen zur Ausbildung von Geburtständen, ja zur Wahrung des Prinzips der Ebenburt führt, gemahnen wiederum ans Rittertum in Europa oder, noch genauer, an die uralte indoeuropäische Gesellschaft einerseits, an Japan anderseits. Als nicht zum Porträt eines roten Gentleman passend, würden wir die Geschicklichkeit der Indianer zu mannigfacher qualifizierter Arbeit ansehen, träfen wir nicht auch da auf Übereinstimmung mit gewissen soziologischen Entwicklungen im europäischen und im japanischen Raum. Auch dort haben die Nachfahren der den Kommerz und die Handarbeit verachtenden Feudalherren sich unter dem Zwang der wirtschaftlichen Notwendigkeit sehr oft als tüchtige Geschäftsleute entpuppt, ja — mußte es sein — als vorzügliche Techniker und Handwerker.

La Farge erörtert auch ein wichtiges Gebiet der Völkerpsychologie, das Sexualleben der Indianer. Leider hat er dabei, inmitten vieler beachtlicher Einzelheiten, so über die Verbreitung der Päderastie und über ihren Zusammenhang mit religiöser Mystik, einen bedeutsamen Zusammenhang unberücksichtigt gelassen, den zwischen der sadistischen Veranlagung der Rothäute — die zweifellos zum Erbteil aller Mongoloiden gehört — und der von ihm als unerklärlich hingestellten Freude sonst gutmütiger Menschen am Quälen ihrer Gefangenen: die weithin sakrale Sitte des Marterpfahls. Die von der Wissenschaft erhärtete Verwandtschaft der Indianer mit der mongolischen Hauptrasse im nördlichen und östlichen Asien wird von La Farge wiederholt unterstrichen; er zeigt auch die Wege, die von der über die Beringstraße erfolgten Einwanderung der ersten eigentlichen Entdecker Amerikas genommen worden sind. Allein hier vermissen wir zwei Fragen, die unbedingt dem eine allgemeine erste Information begehrenden Leser vorzulegen und nach dem heutigen Stand der Wissenschaft zu beantworten sind: die vorkolumbianischen Einwanderungen und die damit verbundenen Kultureinflüsse aus dem pazifischen Raum und, hypothetisch, aus dem asiatischen Südosten, sodann mancherlei erstaunliche physische und psychische Gemeinsamkeiten der Indianer mit der dinarischen Rasse. Das Kon-Tiki-Problem bezieht sich nicht nur auf Südamerika; es geht mindestens auch Kalifornien an. Am interessantesten aber scheint zunächst der Vergleich und darnach die wahrscheinliche Erklärung dieser anthropo-geographischen Tatsachen: das Äußere etwa eines dem hergebrachten entsprechenden und dabei gar nicht falschen Bildes eines nordamerikanischen Indianers, wie ihn unter den Illustrationen zu La Farge die Photographie des Häuptlings Rote Wolke zeigt, und das eines polnischen Göralen, eines rumänischen oder serbischen Karpatenbewohners überrascht durch die Ähnlichkeit zwischen dem UrAmerikaner und den osteuropäischen Ge-birgsleuten. Sorgsame Messungen werden diesen Eindruck einwandfrei bestätigen.

Die Motivierung wird nicht allzu schwer. Geistig und leiblich leiten sich die einen und die anderen von gemeinsamen Ahnen her, die vor fünfzehn- bis zwanzigtausend Jahren in Sibirien gehaust haben. Der eine Strom dieser erst spät zur Seßhaftigkeit gelangten Nomaden ist nach Westen, der andere nach Osten weitergewandert.

Zu derlei Erwägungen regt bei La Farge vordringlich die hervorragend gute Bebilderung an. Sie ist mit raffinierter Klugheit ausgewählt und ergänzt den Text so vortrefflich, daß er erst durch sie seinen ganzen außerordentlichen Wert gewinnt. Was sollen wir noch an diesem Buch rühmen? Die sehr gescheiten Auseinandersetzungen über Verfassung und Gesellschaftsschichtung der kulturell höchststehenden Indianer? Die Mitteilung über ihre Küche? (Der Mensch ist, auch bei angeblich Wilden, in vielem das, was er ißt.) Die außerordentliche Geschichte vom genialen Tscherokesen Sequoyah, der, ohne je ein anderes Alphabet gekannt zu haben, eines, und zwar ein Silbenalphabet, erfand und es seine Landsleute binnen kürzester Zeit lehrte? Die künstlerische Offenbarung, die uns durch die Reproduktionen von Gemälden indianischer Maler beschert wird? Die kondensierten Nachrichten über die heutige Lage der Urbewohner in den USA? Nicht wenig davon ist neu, anderes unter neuem Aspekt erschaut. Nicht neu ist, zu unserer großen Betrübnis, die Erzählung vom mitleidlosen, durch heuchlerische Vorwände eher noch widerlicherem Ausrottungskrieg gegen die immer wieder aus ihren Wohnsitzen vertriebenen Indianer. Er berichtet aber auch vom Wiederanstieg einer Rasse, die sich allen überlegenen und feindlichen Gewalten zum Trotz, behauptet hat und die nun in die amerikanische Gemeinschaft hineinwächst.

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