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Grobes Interesse fur historische Filmdokumente

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Die Menschenmassen, die auf der Leinwand über die Ringstraße marschierten und sich vor dem Parlament sammelten, um der Ausrufung der Republik beizuwohnen, brachten die Zuschauer - größtenteils Studenten -zum Schmunzeln. „So zackig und abgehackt haben unsere Eltern oder Großeltern die neuerstandene Republik begrüßt?“ Das im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien gezeigte Filmdokument stammte von 1919, aufgenommen vom Dach des Parlaments, zur damaligen Zeit ein ebenso schwieriges wie gefährliches Unternehmen.

Es war nicht der einzige filmhistorische Leckerbissen, mit dem Dr. Gerhard Jagschitz vom Institut für Zeitgeschichte vor dem immer überfüllten Hörsaal aufzuwarten hatte. An vier Abenden zeigte er 14 Originalstreifen aus der Zeit der Ersten Republik, die er im österreichischen Filmarchiv und Filmmuseum ausgegraben hatte. Mit dem Erfolg, daß sich von den jeweils rund 400 anwesenden Zusehern der Großteil noch mehr für Zeitgeschichte interessiert oder anfängt, sich damit auseinanderzusetzen.

Wie groß ist das Interesse für österreichische Zeitgeschichte überhaupt? Zieht man die Filmvortragsreihe „Österreich 1918 bis 1938“ im Rahmen der volkstümlichen Universitätsvorträge der Universität Wien in Betracht jedenfalls ungewöhnüch groß. Dr. Jagschitz, der vom Akademischen Senat mit der Organisation der Vortragsreihe beauftragt wurde, zog zum Schluß Bilanz: „Es war ein außergewöhnlicher Erfolg, sowohl was die Reaktion als auch die Teilnahme betrifft.“ Für das Zeitgeschichte-Institut bot die Aktion den Anreiz, in Zukunft ähnliche Veranstaltungen in Eigenregie zu organisieren, denn der Film scheint ein ideales Mittel zu sein, Zeitgeschichte verstärkt „an den Mann“ zu bringen.

Doch noch steckt die Bearbeitung zeitgeschichtlicher Filmdokumente in Österreich in den Kinderschuhen. Das zeigte sich auch bei der Vortragsreihe im NIG: Die Dokumente mußten im Rohschnitt gezeigt werden, die Arbeit an der Filmquelle fehlte mehr oder weniger vollkommen. Dabei hat das „Rohmaterial“ für den versierten Zeitgeschichtler sicher einen Vorteil, da er bei der Erforschung historischer Teilaspekte fast „unverbrauchte“ Quellen benutzen kann. Für den Nichtfachmann besteht jedoch die Gefahr der manipulierten, weil unkommentierten Zeitgeschichtsbetrachtung.

Denn darüber muß man sich im klaren sein: Die leidenschaftslose nüchterne Beschäftigung mit Zeitgeschichte ist für unmittelbar Beteiligte genauso schwierig wie für interessierte Jugendliche, die Zeitgeschichte meist nur aus einem bestimmten ideologischen Blickwinkel betrachten. Dr. Jagschitz meint dazu: „Alle müssen eben akzeptieren, daß es andere Meinungen gibt. Besonders schwer ist es, einem Großteil der Augenzeugen der Zeitgeschichte klarzumachen, daß sie eben nur einen Teil selbst miterlebt haben. Der Historiker muß ihnen dabei helfen, die größeren Zusammenhänge herzustellen und damit unbefangener an die historischen Interpretationen heranzugehen.“

Doch diese Unterstützung zu leisten, die ja letztlich auch für die innenpolitische Klimaverbesserung in Österreich entscheidend sein kann, ist für das Zeitgeschichte-Institut nicht immer einfach. Obwohl die Experten in der Rotenhausgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk seit 1966 Pionierarbeit auf dem Gebiet der österreichischen Zeitgeschichte leisten, nagen sie am Hungertuch, wie Dr. Jagschitz klagt. Es ist ihnen beinahe unmöglich, die Gewichtungen anders zu setzen, also etwa auch Filmdokumente in ihre zeitgeschichtliche Aufklärungsarbeit miteinzubeziehen.

Dr. Jagschitz, der mit seinen Studenten in einem der kommenden Semester ein Seminar mit zeitgeschichtlichen Filmdokumenten machen will, meint: „Mit der Aufbereitung und Kommentierung der vielen hundert ungenützten Fümstreifen könnte allein eine Person beschäftigt sein. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt aber ganz einfach finanziell nicht möglich.“ Außerdem fehle in Österreich auch der Spezialist, der sich hauptsächlich dieser Arbeit widmen könnte - zum Leidwesen der österreichischen Zeitgeschichtsforschung. In dieser Hinsicht gäbe es noch sehr viel wichtiges zu tun. Bleibt zu hoffen, daß die Hilferufe aus der Rotenhausgasse von den verantwortlichen Stellen nicht überhört werden.

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