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„Kongreß der knurrenden Mägen“

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Das polnische Volk leidet unter einer schweren Versorgungskrise. Kein Wunder also, daß es den Beginn des 7. Parteikongresses am 8. Dezember in düsterer Stimmung, und mehrheitlich uninteressiert erwartet, obwohl die Propagandawalze der Partei auf Hochtouren läuft, die Parteiprominenz unermüdlich redet und versucht, Beruhigungspillen zu verabreichen. Dies, die großangelegte Administrations- und Verwaltungsreform und andere spektaktuläre Maßnahmen können über das Dilemma nicht hinwegtäuschen.

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Das polnische Volk leidet unter einer schweren Versorgungskrise. Kein Wunder also, daß es den Beginn des 7. Parteikongresses am 8. Dezember in düsterer Stimmung, und mehrheitlich uninteressiert erwartet, obwohl die Propagandawalze der Partei auf Hochtouren läuft, die Parteiprominenz unermüdlich redet und versucht, Beruhigungspillen zu verabreichen. Dies, die großangelegte Administrations- und Verwaltungsreform und andere spektaktuläre Maßnahmen können über das Dilemma nicht hinwegtäuschen.

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315 Kreise wurden aufgelöst, und es gibt fortan an Stelle von 17 Woiwodschaften deren 49. Parteiführer^ Gierek wollte durch diese Vereinfachung der Verwaltung direkten Einfluß auf die Basisorgane in der mittleren Schicht gewinnen. Der Sekretär des Zentralkomitees, Edward Babiuch, im Volksmund Edward II. genannt, weil Edward I. eben Gierek selber ist, hat zugegeben, daß die Reform recht unpopulär sei. Ob durch sie die zentrale Autorität tatsächlich gestärkt wird, wie erhofft, wird die Zukunft und wird vor allem das Alltagsleben nach dem Parteikongreß zeigen. Daß die 38 ehemaligen Parteisekretäre der Woiwodschaften, die nun abgesetzt wurden, darüber nicht gerade erbaut sein dürften, ist anzunehmen. Die neuen Besen indessen verdanken ihre Beförderung Gierek und werden daher zum guten Anfang besser „kehren“ als ihre Vorgänger. Die elf Woiwodschafts-Parteisekretäre, die ihre Haut retten konnten, werden sich bemühen müssen, sich dieser Gnade als würdig zu erweisen.

Das „Statistische Hauptamt“ Polens wurde einer Rekonstruktion unterworfen, um leichter und verläßlicher die erwünschten Daten aus den neuen geographischen Einheiten einsammeln zu können. Viel Arbeit wartet auch auf die provinziellen statistischen Ämter, sie werden die Städte mit mehr als 50.000 Bewohnern, vorläufig nur die Komitatssitze, unter die Lupe zu nehmen und statistisch neu zu vermessen haben. Für Polens Statistiker wird 1976 also ein Schicksals jähr werden, da auf Grund ihrer Daten die Route der sozialwirtschaftlichen Weiterentwicklung festgelegt werden soll.

Die Parteiorganisation befindet sich seit September 1974 in Alarmzustand, weil ja ein Erfolg des Parteikongresses trotz der prekären Lage der Agrarwirtschaft und trotz der Krise der Lebensmittelversorgung garantiert werden muß. Regionale Treffen von-Parteikomitees der Woiwodschaften finden am laufenden Band statt. Der Landwirtschaftsminister Kazimierz Barci-kowski und der Leiter der landwirtschaftlichen und der Lebensmittelabteilung des Zentralkomitees, Jerzy Wojtecki, eilten von einer Versammlung zur anderen, wobei ihnen nicht nur einmal selbst Gierek Beistand leistete. Sie waren vorsichtig genug, eine generelle Verbesserung der Lage erst für das Jahr 1980 zu versprechen. Auf die Wunschtraumliste wurden, zwecks Besänftigung der erbitterten Konsumentenmassen, die üblichen Schlagworte gesetzt: Lohnerhöhungen, mehr landwirtschaftliche Investitionen (die polnische Agrarwirtschaft ist in Sowjeteuropa die einzige, die nicht kollektiviert ist). Beschleunigung des Wohnbauprogramms und baldige Verbesserung der gesamten Infrastruktur...

Die „Vereinigte Bauernpartei“, die sonst keinen wesentlichen Einfluß auf den Lauf der Ereignisse hat, mußte dabei ihre Statistenrolle in den ländlichen Bezirken spielen. Auch die Volksarmee und andere Massenorganisationen wurden des öftern als Propagandisten eingesetzt. Unter dem Motto: „Die Jugend fürs Land“ wurde die Jugend mobilisiert. Die Straffung der Disziplin ist ein Gebot der Stunde auf allen Ebenen und in sämtlichen Sektoren der Produktion. Namhafte Professoren und Wissenschaftler müssen ebenfalls ihren Anteil leisten, wie von der Parteiführung vorgeschrieben. Gierek appellierte an das Gewissen aller Forscher,- mitzuhelfen, mitzumachen.

Einfältige Propagandisten warfen das Schlagwort in die Menge: „Man lebt nicht vom Brot allein“. Schlagfertigere Kritiker lancierten dagegen eine modifizierte Version: „Man lebt nicht vom Wort allein“, und sie nannten die Monsterversammlung der Partei den „Kongreß der knurrenden Mägen“.

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