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Giereks Zauberkunststücke

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Edward Gierek und seine Mitarbeiter besuchten die Warschauer Stahlwerke und der „Liquidator der Wirtschaftsmisere“ sprach in jeder Abteilung die Arbeiter „herzlich und ergebenst" an. Am selben Tag empfing er eine Delegation der Volksarmee unter der Leitung des Verteidigungsministers General Wojciech Jaruzelski, der eine Meldung über die „Stärke der Verteidungs- kapazität“ — gemeint war die Verteidigung gegen Unruhestifter — erstattete.

In seiner Neujahrsansprache wie auch in anderen öffentlichen Reden versprach Gierek wahre Zauberkünste der Staatsführung, nämlich die Lösung des Problems, wie „die Interessen des Volkes“ mit der Raison ďétat harmonieren sollen. Er war vorsichtig genug, in Aussicht zu stellen, daß die Regierung „Schritt für Schritt“ vorgehen wird, und appellierte immer wieder an die Solidarität der „alliierten Parteien“, wobei die Vereinigte Bauernpartei und Demokratische Partei gemeint waren.

Unter Leitung des Vorsitzenden der Polnischen Wirtschaftsgesellschaft, Professor Pajetska, erschien eine Prozession der staatlichen Wirtschaftsführer vor Gierek und beschwor permanente Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung.

Die Presse erhielt Anweisung, die Berichterstattung fortan in Moll zu komponieren, doch Optimismus soll fässerweise ausgeschüttet werden. „Common sense“ soll gestärkt und „emotionale Reaktionen“ sollen im Keim erstickt werden. Die optimistische Stimmungsarbeit wurde auch auf das befreundete Ausland ausgedehnt; bekanntlich besuchten Gierek und Ministerpräsident Jaros- zewicz Anfang Jänner Moskau. Eine Flut von nichtssagenden Beteuerungen ergoß sich über Polen und ganz Sowjeteuropa. Wie viele Millionen Tonnen Getreide und wieviel Schweinefleisch Moskau zur Beschwichtigung der hungrigen Polen beisteuern will, vernahmen nicht einmal die empfindlichsten Ohren mit einem Ton.

Die Polen wurden ermahnt, nicht zu vergessen, daß die bilaterale Wirtschaftskooperation keinen Aufschub duldet. Die Polen verlangten Soforthilfe, die Sowjets deuteten die Möglichkeit an, als Folge „weiterer Verhandlungen" eventuell die Getreidelieferungen „im Rahmen des sowjetischen Fünfjahresplanes 1971 bis 1975“ zu erhöhen. Die Polen baten um Mengen, von denen die Russen nicht einmal sprechen wollten. Das magere Ergebnis: Betonung der unveränderten Fraternität zwischen der neuen Polenführung und Kremladministration. Moskau ringt selbst mit einem chronischen Fleischmangel. Auch keine Finanzhilfe wurde offeriert.

Jedrychowski und vier hohe Funktionäre nahmen die Gastfreundschaft des ostdeutschen Außenministers Otto Winzer drei Tage in Anspruch. Auch Parteiführer Ulbricht und Willi Stoph haben die Polen angehört. Der Warenaustausch stand natürlich im Vordergrund. Die Polen hätten gern konkrete Hilfezusagen gehört, die Ostdeutschen predigten von der geplanten europäischen Sicherheitskonferenz und Modalitäten der künftigen Wissenschaftlich-technischen Kooperation.

Ähnliche Erfahrungen konnte Politbüromitglied und ZK-Sekretär Olszowski in Bukarest sammeln. Er referierte über die „Dezemberereig- nisse“, worauf Ceausescu mit „Inter- Partei-Relationen“ antwortete.

In Polen selbst wurde allgemeine Worttherapie angeordnet: Unzählige Parteikonferenzen überall, das wichtigste Treffen fand vor Giereks Abreise nach Moskau statt, wofür das ZK alle ZK-Sekretäre, Woiwodschafts-Erste-Sekretäre und ZK-Ab- teilungschefs zusammengetrommelt hat. Die Marschroute der kommenden Parteiarbeit für ganz Polen wurde besprochen.

Die Teilnehmer wollten ihren Ohren nicht trauen, als ihnen bloß eine „detaillierte Analyse der Dezemberereignisse“ versprochen wurde. Auch die Gewerkschaften mußten eine Reihe von Konferenzen abhalten; als glühendes Beispiel wurden den Arbeitern die Warschauer Stahlwerke empfohlen, wo der Produktionsplan 1970 angeblich um 11,5 Prozent übererfüllt worden sei.

Der Erste Sekretär von Poznan,

Kazimierz Barcikowski, wurde wegen Unfähigkeit hinausgeworfen und durch den bisherigen Organisationsabteilungschef Jerzy Zasada ersetzt, der ursprünglich in der

Jugendorganisation als „Unbeugsamer“ Karriere gemacht hatte. Zdzislaw ZandarowsM übernahm von Babiuch, der vorrückte, die Leitung der ZK-Organisationsabteilung, nebenbei die Cefredaktion der parteiideologischen Zeitschrift „Zycie Partäi“. Jerzy Gawrysiak wurde zum Stellvertretenden Binnenhandelsminister befördert.

In Szczecin und Gdansk: Parteikonferenzen, Reden, vor allem in den „Adolf-Warski“-Werften, um den mißtrauischen Werktätigen weitere Streiks auszureden. Versprechungen ohne Substanz. Und volle Straffreiheit für die Revoltierenden. Vorsichtshalber hat „Trybuna Ludu“ diesen Passus aber verschwiegen.

Das Parteikomitee ist Infolge der Anzündung seines Hauptquartiers obdachlos geworden und mußte „vorläufig“ ins Präsidium des Distriktsvolksrates übersiedeln.

Das bisherige Lebensminimum wurde von 850 auf 1000 Zloty im Monat rückwirkend mit Dezember 1970 erhöht. Familienbeihilfe erhalten vor allem Arbeiterfamilien, in denen das Pro-Kopf-Nettoeinkommen monatlich nicht höher ist als 1000 Zloty.

Trotz aller Beschwichtigungsversuche kam es in Danzig und Stettin zu neuen Streiks. Innenminister (und Geheimpolizeichef) Switala trat zurück, Gierek eilte nach Danzig. Zweck: Erneutes gutes Zureden.

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