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Zwischen Maulkorbwinter und Frühling

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Das Weihnachtsprogramm des polnischen Staatsrundfunks war ungewöhnlich. Niemals zuvor seit 1956 hatte man so viele Weihnachtslieder gehört, religiöse wie auch weltliche. Dagegen waren die Unterhaltungsprogramme so modern und westlich gestimmt wie kaum je zuvor, es gab eine Menge Popmusik, die Texte waren recht gewagt, und das keineswegs nur in Sachen Sex.

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Das Weihnachtsprogramm des polnischen Staatsrundfunks war ungewöhnlich. Niemals zuvor seit 1956 hatte man so viele Weihnachtslieder gehört, religiöse wie auch weltliche. Dagegen waren die Unterhaltungsprogramme so modern und westlich gestimmt wie kaum je zuvor, es gab eine Menge Popmusik, die Texte waren recht gewagt, und das keineswegs nur in Sachen Sex.

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Die Schnelligkeit und Unverkrampft- heit, mit der sich die Programmmacher umzustellen vermochten, bewies, daß sie auf ihre Stunde gewartet hatten.

Auch die Weihnachtspredigt von Kardinal Wyszynski war ein weiteres Symptom dafür, daß der polnische Staat wieder einmal gesonnen ist, der Kirche entgegenzukommen, weil er sie braucht. Wobei sich nun die Frage stellt, ob die neue polnische Führung zu einigen kurzfristigen Zugeständnissen bereit ist, die zurückgenommen werden sollen, sobald sich die Wogen der Erregung wieder völlig geglättet haben,, oder ob die polnische Bevölkerung mit etwas mehr und dauerhafter Liberalität rechnen kann.

Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen: kein ideologischer Frühling, keine „hundert Blumen”, aber auch kein neuer Maulkorbwinter. Die Frage der Meinungsfreiheit ist gegenüber 1956 in den Hintergrund gerückt. Die Jugend wünscht Pop und all die anderen Attribute der westlichen Zivilisation und es wird sowohl vom Ausgang der innerparteilichen Machtkämpfe als auch von den sowjetischen Reaktionen abhängen, ob und wieweit man ihr entgegenkommt.

Gierek: kein Intellektueller

Der neue Parteichef Gierek ist ein Mann, der sich gern den Anstrich eines Freundes der Künste gibt und Interesse für Literatur und moderne Malerei zeigt, aber er ist, genau wie Gomulka, eher ein Antiintellektueller. Als 1968 die studentische Protest- yelle auch den Osten erreichte, hatte r für die Studenten nur die üblichen Beschimpfungen bereit. In Kat- towitz, der Stadt seiner Hausmacht, ging die Polizei damals gegen 10.000 •demonstrierende Studenten schärfer vor als in der Hauptstadt. Erstmals wurden auch Polizeihunde eingesetzt.

Vom zweiten Mann im neuen Team, Moczar, ist ohnehin nur Obstruktion gegen alles, was nach Intellekt oder Liberalität riecht, zu erwarten. Moczar ist geradezu ein Buhmann: konservativer Kommunist, Nationalist und Antisemit.

Der Mann der Stunde heißt Gierek und steht, wie 1956 Gomulka, für einen neuen, gewandelten Kommunismus. Er ist der Mann der polnischen Arbeiter, die sich heute für ideologische Fragen nur interessieren, so weit ihre unmittelbaren materiellen Interessen betroffen sind. 1956 konnte man das Motto „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein” auf das Banner der revoltierenden Polen schreiben, 1970 ebenfalls, doch in einem anderen Sinn: Es ging in Danzig, Stettin, Breslau und Krakau nur noch um mehr Fleisch, um ‘mehr Käse, um bessere Schuhe, vor allem aber um die Le- bensmittelpreise, die kurz vorher um durchschnittlich 20 Prozent erhöht worden waren.

Einer der Hauptgründe für die Erhebung war der Mangel an Fleisch Der Fleischmangel resultiert aus der Rückständigkeit der polnischen Landwirtschaft, diese wiederur paradoxerweise nicht aus der ideologischen Gängelung der Bauern, sondern eher aus jenen Ressentiments gegen alles, was nach Organisierung riecht, die die polnischen Bauern seit der Befreiung aus den Zwangsjacken der Kollektivierung im Jahr 1956 an den Tag legen.

Während es Polen gelang, mit seiner Industrieproduktion Kanada zu überholen und auf Platz zehn auf der Weltrangliste vorzurücken, arbeiten heute 82 Prozent der polnischen Bauern auf ihrem eigenen Grund und Boden, wobei 62 Prozent aller Bauern weniger als fünf Hektar und nur knappe drei Prozent mehr als 15 Hektar bearbeiten. Die Indu- strialisierung lockt auch in Polen die jungen, tüchtigen Arbeitskräfte in die Städte, auf dem Land bleiben die Alten zurück. 80 Prozent aller Polen, die das Pensionsalter erreicht haben und trotzdem noch arbeiten, tun es in der Landwirtschaft. Die Zahl der privaten landwirtschaftlichen Betriebe mit mindestens einem Lohnangestellten liegt wahrscheinlich weit unter zehn Prozent.

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