6795393-1971_08_07.jpg
Digital In Arbeit

Schloß auf Rädern

Werbung
Werbung
Werbung

Daß Edward Gierek mit einer derart sensationellen historisdi-künstleri-schen Überraschung, ja mit einer Sensation gerade in diesen Tagen aufwarten würde, hätte kein Pole erwartet. Der neue Parteiführer lud „führende Repräsentanten kreativer Kreise" ein, um mit ihnen über die grundlegenden Probleme des „politischen, sozialen und Wirtschaftslebens" und „die gegenwärtigen Schwierigkeiten" zu beraten. Ein ganz natürlicher Vorgang in einer Notlage. Gierek informierte die Anwesenden außerdem darüber, daß er und das Politbüro den Wiederaiifbau des Königssdiüosses in Warschau beschlossen hatten.

Zweifellos sucht Gierek mit diesem Beschluß Popularität bei der „Intel-ligenfcsia" und der gesamten Bevölkerung. Das Warschauer Königsschloß (die Kommunisten nennen es das „Schloß von Warschau") hat große emotionelle Bedeutung und seine Reste sind brisanter historischer und kultureller Sprengstoff. Gomulka war schlecht beraten, als er den versprochenen Wiederaufbau des prunkvollen Relikts der feudalen polnischen Vergangenheit verhinderte. Seine Halsstarrigkeit kostete ihn enorm viel Popularität. Was Gomulka durch Hintertreibung des Projekts an Sympathien verlor, kann jetzt Gierek gewinnen. Es geht darum, Giereks Image durch dieses Schönheitspflästerchen aufzupolieren, edn Raddokommentaitoc in Warschau, Jan Zakrzewski, hat es den Hörern unumwunden gesagt Obwohl seit langem niemand mehr vom Warschauer Königsschloß sprach, geschweige denn schrieb, geisterte es in den patriotisch gesinnten Köpfen. Die Polen handelten in ihrer oft tragischen Geschichte immer als Gefühlsmenschen. Das Königsschloß zu Warschau war das letzte und einzige Gebäude von historischem Wert, das nicht wiederaufgebaut wurde, obwohl es dem Volk am meisten am Herzen lag. In einer Sejm-Resolution vom 2. Juli 1949 viTurde dlie Regierung zum erstenmal um den Wiederaufbau gebeten. Als Beginn der Arbeiten war das Jahr 1950 vorgesehen. Die Wiederherstellung sollte 1954 beendet werden. Ministerpräsident Cyran-kiewicz reichte selbst die Resolution ein und empfahl die Verwirklichung des Plans. Sie ließ jedoch auf sich warten. Erst 1954 Avurde über die architektonischen Vorstellungen eingehender diskutiert. Mehrere Pläne wurden ausgearbeitet und erörtert, ein Komitee ins Leben gerufen. Von Zeit zu Zeit haben Journalisten mit gutem Gedächtnis die Öffentlichkeit und die zuständigen Behörden an das historische Schloßprojekt erinnert.

Mitte Februar 1969 nahm dann das Femsehen die ungelöste Frage ins Programm auf. Der Direktor des Warschauer Nationalmuseums, Stanislaw Lorentz, war der imerschrok-kenste Verfechter der Idee.

Professor Lorentz rechnet jetzt mit einer Bauzeit von höchstens drei Jahren. Die Inneneinrichtung könnte weitere sieben bis acht Jahre in Anspruch nehmen. Professor Lorentz zufolge soll die ganze Nation mit Spenden beitragen und das „Wiederaufbaukomitee" unterstützen. Radio Warschau machte sich jetzt zum Wortführer dieses Plans. Die Presse hatte ebenfalls tagelang wirkungsvolle TitelzeUen.

Gierek ist ein besserer Massenpsychologe als sein Vergangen Gomulka fuchtelte mit den Fäusten, er streichelt den Nationalstolz. Er lud bereits elf namhafte Fachleute und berühmte Künstler ein, um ihre Meinung zu hören und Ihre Ratschläge zu befolgen.

Die jahrzehntelamige Verzögerung körmte per saldo dem Projekt sogar zugutekommen, denn die Bautechnik hat in den letzten Jahrzehnten ihre Möglichkeiten bedeutend auageweitet und Polens Architekten sind in dieser Beziehung vöUig up to date. Internationales Aufsehen erregte ein Kunststücke, das bis dahin als fast unmöglich galt Der 200 Jahre alte Lubomirski-Palast, dessen Gewicht auf mehr als 10.000 Tonnen geschätzt wurde, war der verkehrstechnischen Planung im Wege, sollte aber dem Verkehr — siehe oben, Nationalstolz — auclT nicht geopfert werden und wurde daher in seiner ganzen AMS-dehnung unterfangen, und, geschoben und gezogen von riesigen hydraulischen Pressen, auf 1600 Rädern einfach um 78 Grad herumgedreht

Experten aus aller Welt kamen angereist, um die Akticm zu beobachten und — allenfalls — das Palais einstürzen zu sehen. Es ist nicht eingestürzt und wird gegenwärtig renoviert: Außer einigen Mauerrissen ist nichts passiert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung