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Literarische Medizin

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Der Schlaf verkürzt die Teilnahme am aktiven Leben, nicht das Leben selbst

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Der Schlaf verkürzt die Teilnahme am aktiven Leben, nicht das Leben selbst

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Dder gutmütige Mister Samuel Pickwick, Es-quire, vor hundertfünfzig Jahren von Charles Dickens als literarischer Held geschaffen, war ein begeisterter Freund der Wissenschaften. Es hätte ihn sicher gefreut, daß sein Name in die Medizin eingegangen ist - ein neu entdecktes Krankheitsbild wurde als „Pickwick -Syndrom" bezeichnet.

Leute mit diesem Syndrom pflegen plötzlich am hellichten Tage in Sekundenschnelle einzuschlafen. Diese Ausfälle dauern meistens auch nur Sekunden, sie verursachen jedoch das, was man auf höherer staatsmännischer Ebene „black-out" nennt.

Ich freue mich auch, daß dieses Phänomen ein wissenschaftliches Syndrom ist und so einen sympathischen literarischen Neunen hat. Mir passiert es nämlich ziemlich oft, daß ich im Theater, bei einer Rede oder

Lesung einnicke. (Das Nickerchen vor dem Fernseher zähle ich nicht dazu, denn das verwandelt sich normalerweise — da ungestört — in einen längeren gesunden Schlaf.) Die Sekundenschläfchen aber hinderten mich sogar daran, Theaterkritiker zu werden. Nicht so sehr deshalb, weil mir durch die black-outs der Sinn des Stückes entgehen könnte, falls vorhanden - da halte ich mich an den Spruch eines berühmten Theaterkritikers, ich glaube, es war Alfred Kerr, „Schlaf ist auch eine Art von Kritik".

Das schlimme ist nur, daß ich sofort schnarche. Ich schämte mich dafür, eine solche Schlafmütze zu sein. Jetzt, wo ich weiß, daß es sich um das Pickwick-Syndrom handelt, ist mir wohler.

Es erschreckt mich nicht einmal,

daß der Medizin-Professor, der dieses Syndrom beschrieben hatte, es als unheilbar, lebensbedrohend und lebensverkürzend schilderte. Ich glaube nicht, daß Schlaf lebensverkürzend wirkt - es sei denn, man schläft hinter dem Steuer ein, auf einem Drahtseil spazierend, im Bett rauchend, oder in einer ähnlichen Situation. Der Schlaf verkürzt die Teilnahme am aktiven Leben, nicht das Leben selbst.

Das Pickwick-Syndrom muß eine ziemlich junge Neuentdeckung sein, in meinem Brockhaus steht es nicht einmal in den neuesten Ergänzungen. Man könnte sich wundern, daß ein Phänomen, welches Dickens vor eineinhalb Jahrhunderten beschrieb, erst jetzt wissenschaftlich erfaßt wurde - aber die Wissenschaft hinkt manchmal um Jahrtausende hinter der Literatur her.

Jedenfalls kam die Entdeckung rechtzeitig, um einen Bankier vor Gericht zu entlasten - wegen der Pickwickschen Nickerchen konnte er nicht so genau im Bilde sein, was in seiner Bank mit den Millionen ge-

schah, die ihr die Anleger anvertrauten.

Ich muß eine andere Variante der Krankheit haben, denn ich schlafe nie ein, wenn man vom Geld redet; wahrscheinlich, weil ich nur über mein eigenes und nie über so viel Geld disponiere.

Manche Spendenmäzene und Spendeneinnehmer tun einem direkt leid, daß sie keine so rettende Krankheit wie das Pickwick-Syndrom zur Verfügung hatten. Nun, sie wird wohl in der Zukunft dem einen oder anderen helfen.

Man müßte nur denjenigen, die über unsere Gelder und unsere Sicherheit entscheiden, das Pickwick-Syndrom gesetzlich verbieten. Wenn die etwas verschlafen, soll man sie nicht als Pickwick-Geschädigte, sondern wie früher als Schlafmützen behandeln. Dann wird wohl das Syndrom selbst dahingehen, mangels Nahrung. Wie die Manager-Krankheit, die seinerzeit furchtbar grassierte und sofort aufhörte, als auch im Management die Arbeitsplätze knapper geworden waren.

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