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Vor genau 20 Jahren entdeckten zwei Bergtouristen zufällig die Gletschermumie "Ötzi“. Obwohl Wissenschafter seither zahlreiche Fragen beantworten konnten, gibt der Fund bis heute Rätsel auf.

"Wir haben Glück, heute ist nur wenig los“, sagt der Museumsführer. Ein wenig Geduld ist dennoch geboten. Mit Zugbändern verbundene Abgrenzungsständer, wie man sie von Flughäfen kennt, formieren die Menschenmenge zu einer serpentinenförmigen Warteschlange. Wer an der Reihe ist, hat ein paar Augenblicke alleine vor dem 40 x 40 Zentimeter großen Sichtfenster, ehe der Anstand oder das Raunen der dahinter Wartenden zum Weitergehen zwingen. Gegenstand des regen Interesses ist die wahrscheinlich am besten untersuchte Leiche der Welt. "Ötzi“, der "Mann aus dem Eis“ (wie ihn die Wissenschaft nennt), ist auch 20 Jahre nach seiner Entdeckung noch immer ein Publikumsmagnet. Sein konservierter Körper bildet den Höhepunkt einer aktuellen Sonderausstellung im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, die aufgrund des ungebrochenen Erfolges bis Ende 2012 verlängert wurde.

Für "Time“ einer der wichtigsten Menschen

In heutiger Begrifflichkeit könnte man Ötzi als "Promi“ bezeichnen. Sein gefrorener Körper bildet aus vielen Gründen den Stoff, aus dem Mythen geschrieben werden. Schon die Entdeckung des mumifizierten Alpenbewohners durch das deutsche Ehepaar Erika und Helmut Simon resultierte aus einer Kette von Zufällen. Letztlich führte die spontane Entscheidung, einen Schmelzwassersee links statt rechts zu umgehen direkt zur halb freigelegten Leiche.

Unstimmigkeiten über die Eigentumsrechte an Ötzi erwirkten eine amtliche Neuvermessung des Grenzverlaufs zwischen Österreich und Südtirol. Mit dem bekannten Resultat: 92,56 Meter entschieden zugunsten unseres südlichen Nachbarn. Die Tatsache, dass bis heute acht Menschen, die an Fund oder Erforschung Ötzis beteiligt waren, gestorben sind, gab Verschwörungstheoretikern Futter für die Mär von "Ötzis Fluch“ (siehe unten). Das Time Magazine erklärte den Eismann 1991 zu einem der 25 wichtigsten Menschen des Jahres, etwas später setzten sie ihn sogar auf das Cover einer Oktoberausgabe.

Geradezu banal muten daneben die nüchternen Erkenntnisse der Wissenschaft an. Ötzi ist eine der ältesten jemals gefundenen Mumien, zugleich die einzige vollständig erhaltene Feuchtmumie. Ihre Organe enthalten eine geringe Restfeuchtigkeit, was wissenschaftliche Untersuchungen daran erst ermöglicht. "Die Einmaligkeit besteht vor allem darin, dass der Körper mit allen Organen erhalten ist“, sagt Walter Leitner, Leiter des Instituts für Archäologie an der Universität Innsbruck. "Auch seine Kleidung und die Ausrüstungsgegenstände erlauben uns einen Blick in die Geschichte der Jungsteinzeit, der zuvor nicht möglich war.“ Mehr als 100 internationale Forschungsteams aus verschiedenen Fachrichtungen haben die Mumie in den vergangenen 20 Jahren untersucht. Stück für Stück trugen sie Erkenntnisse zusammen, die sich zu einem - stets vorläufigen - Gesamtbild Ötzis Person, seines Lebens und seiner Zeit verdichten.

Ein Mittvierziger war er demnach, etwa 1,60 Meter groß, 50 Kilogramm schwer mit Fußgröße 38. Seine Lebenszeit wurde mittels Radiokarbon-Methode auf ein Fenster zwischen 3350 und 3100 vor Christus datiert. Die Materialien seiner Ausrüstungsgegenstände, etwa der als Messerklinge dienende Feuerstein, sind der Remedello-Kultur zugehörig. Diese war südwestlich des Gardasees beheimatet.

Erweiterung zu einem Kriminalfall

Im Zahlschmelz gefundene Mineralstoffe sowie Spurenelemente von Strontium, Blei und Sauerstoff in den Knochen zeigen, dass Ötzi im Südtiroler Eisacktal, auf kristallinem Boden, aufgewachsen ist. Die zweite Lebenshälfte verbrachte er auf vulkanischem Untergrund, wahrscheinlich irgendwo im Etschtal. Untersuchungen des Darminhaltes brachten zutage, was Ötzi zuletzt gegessen hatte. Doch nicht nur das: Pollen der Hopfenbuche im Darm erlauben zudem eine Einschränkung des Todeszeitpunktes auf den Frühsommer. Denn die Blütezeit der Hopfenbuche ist im Juni.

In jüngerer Vergangenheit haben Wissenschafter auch das Erbgut von Ötzi entschlüsselt. Daraus weiß man inzwischen, dass er braune Augen hatte und nicht - wie lange angenommen - blaue. Im heurigen Herbst sollen auf einer Konferenz in Bozen weitere DNA-Resultate veröffentlicht werden. 2001 entdeckten Radiologen eine Pfeilspitze in der linken Schulter der Mumie. Damit erweiterte sich die Thematik mit einem Schlag auf einen Kriminalfall historischer Dimension. Auch eine tiefe Schnittverletzung an der rechten Hand, sowie ein 2006 entdecktes Schädel-Hirn-Trauma sprechen für eine gewaltsame Todesursache. Wer hat ihn umgebracht? Und warum? "Resträtsel“ werden stets bestehen bleiben, wie Angelika Fleckinger, Direktorin des Südtiroler Archäologiemuseums im FURCHE-Interview meint (siehe rechts).

Für die Wissenschaft ergibt sich daraus die Aufgabe, fundierte Theorien zu präsentieren, um die Deutungshoheit nicht der Boulevardpresse zu überlassen. "Man darf die Öffentlichkeit nicht im Unklaren lassen“, sagt Walter Leitner. "Man muss aber gleichzeitig aufpassen, sich nicht in reine Spekulation zu versteigen.“ Er vermutet, dass Ötzi eine wichtige Person in seiner Gruppe war, eventuell in Führungsposition. Dafür spricht das Beil, das der Mann aus dem Eis bei sich trug. Die Spitze ist im Gussverfahren aus Kupfer hergestellt. Da Kupfer in der Jungsteinzeit noch sehr selten war, könnte darin ein Hinweis auf eine sozial gehobene Stellung Ötzis liegen. Von den 14 gefunden Pfeilen in seinem Köcher waren erst zwei mit Spitzen versehen, also schussbereit. Dem Bogen fehlten noch die Kerben, um eine Sehne darin einzuspannen. Er befand sich also offenbar auf der Flucht, was auf einen geplanten Mord hindeutet. Der tödliche Pfeil durchschlug Ötzis linke Unterschlüsselbeinarterie (arteria subclavia). Binnen weniger Minuten war er verblutet. Diesen Ablauf belegen die blutleeren Arterien sowie der Umstand, dass Leichenflecken fehlen. "Der oder die Mörder haben den Pfeil nach der Tat herausgezogen“, sagt Leitner. "Vielleicht wollten sie damit einen Unfall vortäuschen.“ Ein älterer Mann, der in eisigen Höhen der Natur unterliegt, hätte kaum Verdacht erregt. Andere Theorien besagen, dass Ötzi erst nach seinem Tod am späteren Fundort abgelegt wurde. Vielleicht um ihn zu bestatten, vielleicht um den Leichnam zu verstecken.

Der unklare Prozess der Mumifizierung

Uneinigkeit besteht über den Prozess der Mumifizierung. Einige Experten meinen, dass der Körper bald nach dem Tod von einer luftdurchlässigen Schneeschicht bedeckt wurde, worauf Gefriertrocknung einsetzte. Dafür spricht, dass sich Körperfett ohne Luftzufuhr zu einer fettartigen Substanz, dem Leichenlipid, umwandelt. Doch das ist bei Ötzi nicht der Fall. Andere glauben, der Leichnam sei ausgetrocknet und später unter Schnee und Eis verschwunden. Dann wäre er zuvor Insekten und Raubtieren ausgesetzt gewesen und kaum vollständig erhalten. Im Archäologiemuseum sind die Bedingungen der 5000 Jahre langen natürlichen Konservierung jedenfalls nachgestellt, was sich viele lange ansehen.

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