Jüdischer Glaube im „neuen Licht“

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Mit einem Festakt feiert die jüdische Gemeinde Or Chadasch in Wien ihr zwanzigjähriges Bestehen. Sie ist Mitglied der Weltunion für progressives Judentum, der heute weltweit größten jüdisch-religiösen Bewegung, die – von Aufklärung geprägt – vor rund 200 Jahren entstanden ist.

Am 4. Mai 1990 war es endlich so weit: Im Festsaal des Wiener Hotels Imperial wurde der erste öffentliche jüdische liberale Gottesdienst in der Geschichte des österreichischen Judentums gefeiert. In diesen Tagen, am 3. Juni, feiert die jüdische Gemeinde Or Chadasch (Neues Licht) unter dem Motto „Der Tradition treu und offen für die Moderne“ einen Festakt anlässlich ihres 20. Geburtstags, bei dem FURCHE-Kolumnist und Rabbiner Walter Homolka für seine Verdienste um Or Chadasch und für das europäische Judentum geehrt wird.

Schon damals mit dabei und bis heute für Or Chadasch aktiv ist Theodor Much. Der Mediziner, der zahlreiche Bücher über das Judentum publiziert hat („Zwischen Mythos und Realität: Judentum wie es wirklich ist“ u.a.) ist seit 20 Jahren Präsident der Gemeinde und leitet, wenn der Gemeinderabbiner nicht anwesend ist wie andere auch, regelmäßig Gottesdienste.

Doch was unterscheidet progressives Judentum vom orthodoxen Judentum?

Unterschiede in Theorie …

„Die primäre theologisch begründete Trennlinie verläuft bei der Offenbarungslehre“, erklärt Much. Während die Orthodoxie davon ausgehe, dass Gott Mose am Berg Sinai die gesamte Thora sowie die mündliche Überlieferung diktiert habe, ist das progressive Judentum davon überzeugt, dass sich Gott jeder Generation offenbare und die Gebote und Anweisungen der Thora (mit Ausnahme der ethischen Forderungen) nicht als dogmatisch festgeschrieben aufgefasst werden dürfen – eine Überzeugung, die orthodoxe und ultraorthodoxe Strömungen des Judentums nicht teilen. „Dabei sagt ja schon die Bibel im vierten Buch Mose, dass Mose nicht das ganze Gesetz am Berg Sinai erfahren hat. Als die Töchter Zelofhads zu Mose kamen und um Erlaubnis baten, den Besitz ihres verstorbenen Vaters erben zu dürfen, war er zuerst überfordert. Dann brachte er die Sache vor Gott und dieser gab ihm die Erlaubnis, Frauen das Erben zu gestatten, sofern es keine männlichen Nachfolger gibt“, erzählt Much und zeigt damit, dass sich das Judentum in seiner jahrtausendealten Geschichte stetig weiterentwickelte.

Die ersten Entwicklungen in Richtung eines liberalen, progressiven Judentums waren geprägt von der europäischen Aufklärung und entstanden vor rund 200 Jahren. Seine deutschen Vordenker waren unter anderen Israel Jacobsen, Leopold Zunz und Abraham Geiger. Damals wie heute steht liberales Judentum für ein zeitgemäßes, weltoffenes, ethisch-moralisch hochstehendes und doch traditionsbewusstes Judentum. Or Chadasch ist Mitglied der Weltunion für progressives Judentum, der heute weltweit größten jüdisch-religiösen Bewegung.

… und Praxis

In allen Belangen sind Frauen den Männern gleichgestellt. Sie haben dieselben Rechte und Pflichten, speziell im Eherecht, wirken aktiv in den Gottesdiensten mit, können Rabbinerinnen werden – Or Chadasch hatte in seiner zwanzigjährigen Geschichte mit Evelyn Goodman-Thau und Irit Shillor bereits zwei Rabbinerinnen – und Mädchen feiern wie die Jungen ihre Bat Mitzwa, also die religiöse Mündigkeit.

Unterschiede gibt es in der Liturgie: Neben Hebräisch wird die Landessprache gleichberechtigt in den Gottesdiensten verwendet, ein Klavier unterstützt den Gesang in der Synagoge, einzelne liturgische Texte – in erster Linie Gebete – wurden verändert und Doppelfeiertage abgeschafft. „Im sogenannten Achtzehngebet beispielsweise finden auch die vier Erzmütter Erwähnung, die Gebete für die Errichtung eines dritten Tempels und Wiedereinführung des Opferdienstes wurden abgeschafft“, weiß Much.

Wie weit sich Gemeindemitglieder im Privatleben an Speise- oder Schabbatgebote halten, überlässt das Reformjudentum der Verantwortung des Einzelnen.

Gäste sind bei Gottesdiensten immer herzlich willkommen, übertrittswilligen Personen gegenüber ist man gastfreundlich und offen. „In orthodoxen Gemeinden ist es heute fast unmöglich, Jude zu werden. Wir aber sagen: Wenn jemand Jude werden will, dann kann er dies bei uns nach entsprechender Vorbereitung in freundlicher Atmosphäre tun“, sagt Theodor Much und ergänzt: „Auch wenn das Judentum keine missionierende Religion ist.“

Obwohl die einzelnen Strömungen des Judentums in anderen Teilen der Welt eher zerstritten sind, sieht die Situation in Wien anders aus: Die Or-Chadasch-Synagoge ist in einem Haus der Israelitischen Kultus Gemeinde untergebracht, auch sonst sei das Verhältnis zum orthodoxen Stadttempel und seinem Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg gut, auch wenn Or Chadasch ihren eigenen Rabbiner hat. „Unser Rabbiner ist Walter Rothschild, der in Berlin lebt. Er kommt einmal im Monat bei uns vorbei – ein Teilzeitrabbi also, für einen Vollzeitrabbiner fehlt uns derzeit noch das Geld“, so Präsident Theodor Much.

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