Es gibt mehr als eine jüdische Sichtweise

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Die progressiven Juden, die größte jüdische Strömung, kämpfen innerhalbwie außerhalb des Judentums um Anerkennung, sagt Rabbi S. Fuchs.

Es ist wenig bekannt, dass das progressive Judentum (Reformjudentum) die weltweit größte jüdische Strömung darstellt. Dessen Wiener Gemeinde "Or Chadasch“ ist hingegen klein. Vor Kurzem ließ sie aufhorchen, weil sie für sich die staatliche Anerkennung forderte.

Nicht zuletzt deshalb war Ende September Rabbi Stephen Lewis Fuchs, der Präsident der "World Union of Progressive Judaism“, in Wien.

Die Furche: Sie unterstützen die Gemeinde Or Chadasch in deren Bemühen um staatliche Anerkennung.

Rabbi Stephen Lewis Fuchs: Das ist das Ziel. Ob es etwas geholfen hat, werden wir sehen. Ich wollte Or Chadasch Ermutigung bringen, Teil einer weltweiten Familie von 1200 Gemeinden in 45 Ländern zu sein. Ich habe Gespräche mit staatlichen Vertretern und dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde geführt. Es ist durchaus angemessen, auf die österreichische Tradition an liberalem Denken hinzuweisen und darauf, dass es mehr als eine jüdische Sichtweise geben kann. Bei den Christen gibt es ja Protestanten oder Katholiken: Wir wollen, dass die Leute, die hier die Gesetze machen, erkennen, dass es mehr als eine jüdische Stimme gibt. Wir hoffen natürlich auch, dass die Anhänger der traditionelleren Strömungen im Judentum uns als eine religiöse Ausdrucksform des Judentums sehen.

Die Furche: Was halten Sie vom Konzept einer jüdischen Einheitsgemeinde, wie es in Österreich vorgesehen ist, in der alle jüdischen Strömungen Platz finden?

Fuchs: Ob wir das für passend halten oder nicht: Man muss die Karten nehmen, wie sie ausgespielt werden. Es gibt Einheitsgemeinden ja auch in Ungarn oder in Deutschland. Wir respektieren die orthodoxe Tradition, aber wir wollen gleichermaßen respektiert werden. Das ist ein faires Ansinnen.

Die Furche: Dem landläufigen Österreicher ist nicht bewusst, dass das progressive Judentum die zahlenmäßig größte Strömung im Judentum ist. Judentum wird als orthodoxes wahrgenommen.

Fuchs: Mag sein, dass wir für den Österreicher die kleinste jüdische Strömung sind, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Das ist nicht von einem Tag auf den anderen zu ändern. Dass wir in Österreich nur eine kleine Gruppe repräsentieren, ist das historische Ergebnis des Zweiten Weltkriegs und der Zeit davor. Hätte es diese schrecklichen Zeiten nicht gegeben, wären wir auch in Österreich die größte Gruppierung.

Die Furche: Ein Gutteil der jüdischen Intelligenz des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehörte dieser Strömung an …

Fuchs: … und wir scheuen uns nicht darauf hinzuweisen, ebenso wenig scheuen wir uns, darzustellen, dass wir in Nordamerika die größte und sichtbarste Gruppierung des Judentums darstellen. Wenn Präsident Obama zu offiziellen Anlässen eine jüdische Stimme nominiert, dann holt er fast immer einen von uns. Es kann auch von daher nicht im Interesse Österreichs sein, wenn eine Gruppierung, die so respektiert ist, hier einen drittklassigen Status hat.

Die Furche: Aber auch die rabbinischen Autoritäten in Israel akzeptieren das progressive Judentum nicht.

Fuchs: Das ist immer noch ein großes Problem. Doch wenn man heute den Status des Reformjudentums in Israel anschaut und mit der Lage von vor 25 Jahren vergleicht, so findet man heute viel mehr progressive Juden, die stolz und sichtbar sind. Erst vor Kurzem wurde der erste nichtorthodoxe Rabbiner durch den Obersten Gerichtshof anerkannt. Das ist ein Präzedenzfall - weitere Rabbiner werden folgen. Ein Problem ist, dass Gesetze, die in die Zeit der Staatsgründung zurückreichen, das orthodoxe Judentum als repräsentativ für Israel definiert haben.

Die Furche: Es gibt aber Fragen, wo Juden aller Strömungen einig sind - etwa bei der Beschneidung. Wie stehen Sie zu der jüngsten Diskussion darum?

Fuchs: Ja, wir und die Orthodoxen haben da dieselbe Position: Der Staat darf uns nichts dreinreden, ob wir unsere Buben beschneiden. Gleiches gilt für antisemitische Übergriffe: Da stehen alle Juden zusammen. Auch in der Frage des jüdischen Staates Israel sind wir mit unsere traditionelleren Brüdern und Schwestern einig. Wir wollen ein Volk sein. Und gleichzeitig verlangen wir, dass unser Zugang zum Judentum voll anerkannt wird.

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