"Wir müssen mehr über Lebensprobleme sprechen"

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In Israel wird das liberale Judentum offiziell nicht anerkannt. Dennoch bekennen sich in den USA und in Europa mehr und mehr Juden zu dieser Strömung, die auch in der religiösen Praxis eine Synthese zwischen Tradition und modernem Leben versucht. Tovia Ben-Chorin, der Rabbiner der liberalen Gemeinde "Or Chadasch" in Zürich, im Furche-Gespräch über liberales Judentum, Juden in der Schweiz und den jüdisch-christlichen Dialog.

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In Israel wird das liberale Judentum offiziell nicht anerkannt. Dennoch bekennen sich in den USA und in Europa mehr und mehr Juden zu dieser Strömung, die auch in der religiösen Praxis eine Synthese zwischen Tradition und modernem Leben versucht. Tovia Ben-Chorin, der Rabbiner der liberalen Gemeinde "Or Chadasch" in Zürich, im Furche-Gespräch über liberales Judentum, Juden in der Schweiz und den jüdisch-christlichen Dialog.

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dieFurche: Wie fühlt sich ein israelischer Rabbiner in Europa?

Tovia Ben-Chorin: Ich habe ja als Kind von Immigranten, die nach Israel kamen, durch meine Eltern viel von der europäischen Kultur mitbekommen. Ich lese jetzt die Bücher meines Vaters Schalom Ben-Chorin wieder und entdecke, daß ein Teil meiner Seele wieder einen Boden gefunden hat. Ich spüre aber auch, wie existentiell die Schoa bei den Juden Europas noch ist. Das konnte ich mir in Israel nicht so vorstellen: Viele Juden hier vergleiche ich mit Astronauten, die aus dem Raumschiff gefallen sind, und die nun nach Gravitation suchen: Sie müssen irgendwo landen. Die Erinnerung an die Schoa prägt das jüdische Leben noch stark. Und da ist, so glaube ich, eine Antithese notwendig: Wer immer beschlossen hat, in Europa zu leben, muß jetzt "normal" leben. Man darf die Schoa nicht vergessen, aber man kann seine Identität nicht immer auf ihr aufbauen. Dabei kann ein israelischer Rabbiner helfen: Aus einem mehrheitlich jüdischen Land kommend spreche ich über diese Fragen offener.

dieFurche: Spüren Sie, daß in Europa der Antisemitismus wächst?

Ben-Chorin: Ich höre viel darüber, doch ich lebe mit Leuten, die nicht antisemitisch eingestellt sind. Ich lerne da aber von Gemeindemitgliedern, besonders von den Kindern, einiges: Da hat sich in den Schulen etwas geändert: Gerade in der Schweiz ist Antisemitismus wieder ein Thema geworden.

dieFurche: Durch die Nazigoldaffäre?

Ben-Chorin: Ja. Dabei bekamen viele Schweizer das Gefühl: Unser Name wurde durch die Juden beschmutzt. Natürlich konnte man in Büchern die Verstrickungen der Schweiz im Krieg längst nachlesen, aber die Leute lesen solche Bücher nicht: Daß etwa der Judenstempel im deutschen Paß eine Initiative der Schweiz war, ist sehr schwer ins Bewußtsein zu bringen. In den Diskussionen ist es aber wichtig zu sagen: "Wir beschuldigen euch nicht; aber ihr müßt die Verantwortung übernehmen, daß diese Dinge in den Schulen gelehrt werden, damit man weiß, daß so etwas passiert. Auch in der Schweiz." Für mich sind diese Erfahrungen selbst sehr neu: Über Antisemitismus habe ich nur in der Schule oder auf der Universität gehört, ihn habe ich früher nicht gekannt. Aber keine Angst: Eine Massenauswanderung von Juden aus der Schweiz findet natürlich nicht statt.

dieFurche: Sind Sie mit den Lösungen, die die Schweizer Banken und die Historikerkommission versuchen, zufrieden?

Ben-Chorin: Ja und nein. Für mich geht es vor allem um den pädagogischen Aspekt. Es ist ja wichtig, daß die Leute, die ihr Vermögen verloren haben, dieses wiederbekommen. Aber langfristig geht es um Erziehung: In der ganzen Schweiz existiert kein Museum zur Erinnerung an den Holocaust - in England gibt es so etwas in jeder Stadt mit einer jüdischen Gemeinde! Mir haben sogar jüdische Schweizer Politiker erklärt: Wir waren vom Krieg nicht betroffen. Mit der Debatte der letzten Jahre haben sich diese Stimmen geändert. Ich bin zufrieden, daß diese Diskussion jetzt öffentlich geführt wird.

dieFurche: Sind gehören dem liberalen oder progressiven Judentum, also nicht dem orthodoxen, an.

Ben-Chorin: Ich bin in erster Linie ein Jude, und durch das liberale Judentum kann ich mich am besten ausdrücken.

dieFurche: Es gibt aber Juden, die diese Richtung nicht anerkennen ...

Ben-Chorin: ... nicht nur nicht anerkennen, sondern wir sind für sie schlimmer als Ungläubige, weil wir eine Alternative darstellen, die der Orthodoxie auch Angst einjagt. Das liberale Judentum organisiert sich jetzt langsam; eines unserer Probleme ist nämlich, daß wir nicht kämpferisch genug sind: Ich merke das auch in meiner Zürcher Gemeinde: Ich wäre für viel Aktivität, dafür, etwas aggressiver nach außen zu gehen, um in der jüdischen Gemeinschaft aufzuzeigen: Das sind die Alternativen, die wir anzubieten haben.

dieFurche: Sie meinen Alternativen zu den anderen Strömungen im Judentum?

Ben-Chorin: Ja. Ich bin für die Debatte! Leider gibt es im deutschen Sprachraum zu wenige liberale Rabbiner; ich hoffe, mit dem neuen Rabbinercollege in Deutschland, das es jetzt gibt, kommen in die Gemeinden auch Rabbiner, die in Deutschland aufgewachsen sind. Dann werden sich die derzeitigen jüdischen Einheitsgemeinden, in der die Orthodoxen dominieren, öffnen müssen. In den nächsten 20 Jahren wird man die liberalen Juden in Europa immer stärker spüren.

dieFurche: Und auch anerkennen?

Ben-Chorin: Wenn uns die anderen jüdischen Strömungen nicht anerkennen, so kann ich nur sagen: So what? Denn in einem Staat, in dem es eine Trennung zwischen Staat und Religion gibt, kann man ja beispielsweise selbst bestimmen, ob man von einem orthodoxen oder liberalen Rabbiner getraut werden will. Der Markt ist offen, und wir müssen uns anstrengen, den Juden etwas Gutes anzubieten. Die Anerkennung wird schon kommen. Wir hatten ein ähnliches Problem im Rußland des 18. Jahrhunderts, und zwar zwischen den Chassidim und den Mitnaggedim, die mehr rational gelebt haben. Reb Salman Schneur von Lyady, der Gründer der chassidischen Lubawitscher Bewegung, ist so in St. Petersburg ins Gefängnis gekommen. Denn die Schüler des Gaon von Wilna, des Führers der Mitnaggedim, sagten: Der ist gefährlich für den Staat! Juden sind nicht immer so tolerant, wie sie erwarten, daß die anderen mit ihnen sein sollen. Ich denke dennoch, daß in Europa, wo die Juden eine kleine Minderheit sind, es zu "vielgesichtigen" Gemeinden kommen wird, wo unterschiedliche Strömungen zusammenleben.

dieFurche: Das mag für Europa gelten. Aber in Israel?

Ben-Chorin: Da ist es ein Problem - und ein Kulturkampf. Aber das gehört auch zur Normalisierung des jüdischen Lebens: Einen Staat wie Israel aufzubauen ist leichter, als eine seelische Metamorphose durchzumachen. Man darf nicht vergessen, daß 70 Prozent der Israelis nicht aus demokratischen Ländern kommen. Der Prozeß der Normalisierung ist schwer - und tut auch weh. Das ist die große Herausforderung. Schon Ben Gurion, der Staatsgründer Israels, sagte: Wir sind ein Staat des Gesetzes - und nicht der Halacha, der religiösen Vorschriften. Es ist notwendig, eine Synthese zu entwickeln: Wie diese Synthese von Religion und Staat aussieht - das sind die neuen Seiten eines "Talmuds", die jetzt neu geschrieben werden. Nehmen Sie die Wiener Or-Chadasch-Gemeinde: Die fing vor einigen Jahren als eine winzige Gruppe an, und man war nicht sicher, ob sie existieren kann. So haben alle liberalen Gemeinden angefangen, wo immer sie sind.

Wo wird das liberale Judentum stark? In einer Gesellschaft, wo drei Elemente zu finden sind: 1.) Familienleben, 2.) Ehrlichkeit beim Verhandeln und 3.) das Recht auf Eigentum. In einer Demokratie, in der diese Prinzipien verwirklicht sind, entwickelt sich auch ein liberales Judentum. In den USA sind die Liberalen mehr als eine Million; in Israel gibt es noch einen Kampf. Das Problem dabei liegt aber nicht bei den orthodoxen, sondern bei den säkularen Juden, die Schuldgefühle haben: "Ich bin nicht so wie mein Groß- oder Urgroßvater; aber ich will sicher sein, daß es das Judentum noch weiter gibt. Daher unterstütze ich die Orthodoxen." Die Orthodoxie wird so aber zum Museum. Ich persönlich glaube, daß die Orthodoxie eine wichtige Rolle spielt. Aber was ist mit den säkularen Juden - mit denen, die Fragen stellen, und die schon in einer Synthese zwischen der Kultur, in der sie sich befinden, und ihrer eigenen jüdischen Wurzel leben? An diesen Leuten sind wir interessiert.

dieFurche: Hat das christlich-jüdische Gespräch einen Sinn?

Ben-Chorin: Ja. Aber wir müssen noch viel mehr unter den Juden arbeiten. Viele Juden trauen den Christen in diesem Gespräch noch nicht.

dieFurche: Und Sie trauen den Christen?

Ben-Chorin: Ich traue Menschen. Nicht den Institutionen. (Aber ohne Institution treffen sich auch die Menschen nicht.) Es gibt heute mehr Christen, die am Dialog interessiert sind, als Juden. Im 19. Jahrhundert, als viele Juden in Deutschland das Gespräch gesucht haben, waren beide Kirchen - die Katholiken wie die Protestanten - nicht daran interessiert. Im Dialog sollten wir aber mehr miteinander lernen und sehen, wie wir dieselbe Bibel anders verstehen.

Wir sollten auch mehr über die Dinge sprechen, die uns nicht einen. Wir haben einander schon genug auf die Schulter geklopft; ich glaube, wir sind stark genug, auch auf die Unterschiede zu sehen. Und wir müssen viel mehr miteinander die Lebensprobleme besprechen: Was hat Religion heute anzubieten? Hat Familienleben heute noch einen Sinn? Wie kommt das Diabolische im täglichen Leben zum Ausdruck? Was erwarten wir von einem Menschen? Kann jemand durch Religion mehr Freude im Leben haben? Was passiert in einer Gesellschaft, wo alles erlaubt ist? Diese Probleme sind doch auch im Christentum da!

dieFurche: Natürlich!

Ben-Chorin: Und da wäre interessant zu schauen: Wie gehen wir damit um, und wie Sie! Dann befruchten wir uns auch gegenseitig.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

Zur Person Jude mit deutschen Wurzeln Tovia Ben-Chorin wurde 1936 in Jerusalem geboren. Sein Vater, der Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin, war ein Jahr zuvor aus Deutschland emigriert. Tovia studierte Bibel und jüdische Geschichte in Jerusalem und schloß 1964 am Hebrew Union College, Cincinnati/USA, die liberale Rabbinerausbildung ab. Danach war er Rabbiner von liberalen jüdischen Gemeinden in Ramat Gan/Tel Aviv und Manchester/GB. Von 1981 an arbeitete er in der von seinem Vater gegründeten Gemeinde El Har in Jerusalem. Seit 1996 amtiert Tovia Ben-Chorin als Gemeinderabbiner der liberalen Or-Chadasch-Gemeinde in Zürich. Ben-Chorin ist - in der von seinem Vater begründeten Tradition - ein prononcierter Vertreter des liberalen Judentums und Anwalt des jüdisch-christlichen Gesprächs; unter anderem hält er Vorlesungen an der Kath.-Theol. Fakultät in Luzern. Tovia Ben-Chorin, Vater von zwei Söhnen, war im Jänner 2000 anläßlich des 10-Jahr-Jubiläums der Wiener liberalen Gemeinde Or Chadasch in Wien.

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