Versöhnung auf einer entvölkerten Insel

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Erst die Greuel, dann der Friedensschluss: Der neue Roman des Nobelpreisanwärters Yasar Kemal.

Mit der Ankunft des aus dem Krieg kommenden Soldaten Musa auf einer paradiesischen Mittelmeerinsel, der Ameiseninsel, beginnt Yasar Kemals gleichnamiger Roman. Der türkische Autor, der außerhalb seiner Heimat mit dem Roman "Mehmet, mein Falke" bekannt wurde, zeichnet in diesem Buch ein Bild voll krasser Widersprüche. Er beschreibt die Kriege und Greueltaten der Zeit kurz vor und nach der Machtübernahme Kemal Atatürks in der Türkei der zwanziger Jahre vor der Kulisse einer wunderschönen, allerdings menschenleeren Insel.

Während der Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus der Türkei nach Griechenland mussten auch hier die griechischen Bewohner ihre Insel verlassen. Einzig Vasili, ein Fischer, hat sich versteckt und vorgenommen, seine Heimat nicht kampflos aufzugeben. Ebenso wie Musa, der Tscherkesse, der kurz nach dem Exodus eintrifft, ist er ein von seinen grausamen Erlebnissen schwer gezeichneter Kriegsveteran.

Zum ersten Mal spricht der Autor von den Katastrophen, die das Ende des Osmanischen Reiches und den Anfang der türkischen Republik begleiteten und die Kritik sprach von einem Meilenstein seines Lebenswerks. Yasar Kemal wurde 1922 geboren und stammt aus einer kurdischen Familie aus einem der rückständigsten Gebiete im Südosten der Türkei. Als Erster aus seiner Familie besuchte er die Schule und arbeitete dann in seiner engeren Heimat in den verschiedensten Berufen. Obwohl der Autor, der auch als Sänger und Chronist seines Landes bezeichnet wurde, die Themen seiner bereits mehr als zwei Dutzend Romane und Erzählbände fast ausnahmslos in den schweren Lebensbedingungen einer abgelegenen Provinz Südanatoliens gefunden hat, ist er zum modernen türkischen Romancier schlechthin geworden. Kemal wurde 1997 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet und auch bereits des öfteren als Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis genannt.

Vasili will den Eindringling Musa erschießen, doch jedes Mal, wenn er es ernsthaft versucht, holt ihn die Erinnerung an die Greuel der Schlachten, an denen er teilgenommen hat, ein. Der Autor schildert die Erlebnisse der beiden Kontrahenten und zieht dabei das Resümee eines halbes Jahrhunderts türkischer Kriege und türkischer Geschichte. Angefangen mit dem Krieg bei den Dardanellen gegen die Russen, der 1878 endete, über die Balkankriege von 1912/13 bis zum ersten Weltkrieg, in dem die Türkei auf der Seite der Mittelmächte, der Österreicher und Deutschen, stand. Eindrucksvoll sind die Schilderungen der Plünderungen und der Verbrechen der Armee gegen die eigene Bevölkerung und der Wirren, welche die Machtübernahme Mustafa Kemals, der sich später Atatürk - Vater der Türken - nennen ließ, und seiner nationalen Türken begleiteten. So zum Beispiel die systematische Vernichtung der Jesiden oder die Überfälle auf Beduinenstämme. Wehmütig wird der Erzählton, wenn Yasar Kemal die Kalifen und Sultane über ihren langsamen Niedergang sprechen lässt.

Durch eine alte, auf die Insel zurückgekehrte Griechin lernen Vasili und Musa, die sich bis dahin wie Katz und Hund belagern, einander doch noch kennen. Die Kriegserlebnisse der beiden verbinden sie stärker als alle kulturellen Unterschiede und ihre Freundschaft wird zum Appell des Autors für Toleranz und Verständigung. Die Verbindung einer realistischen Erzählweise, wenn Kemal vom Krieg spricht, und einem romantisch überhöhten Balladenton in seinen Beschreibungen der Insel und ihrer vertriebenen Einwohner, ist ihm, wie in seinen besten Büchern, auch diesmal wieder geglückt: "So ein Gewimmel von Marienkäfern hatte Vasili auch noch nie gesehen. Er lernte seine Insel, auf der er geboren und aufgewachsen war, mit anderen Augen ganz neu kennen. Jetzt entging seinen neugierigen Blicken nicht der kleinste Halm, die winzigste Blume, übersah er keine Wurzel, keinen Baumstamm, kein Blatt, keine Farbe, keine Welle, keinen Kiesel, keine Klippe. Und überall stieß er auf einen Vogel, eine Biene, die er noch nie gesehen hatte, kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Da hatte bisher ja niemand gewusst, wie viele Bienen, wie viele Arten von Bienen auf dieser Insel lebten! Nicht weit von ihm gewahrte er Wiedehopfe. Er hatte schon viele gesehen, aber diese hier waren riesengroß, hatten sehr lange Hauben, und der leuchtende Glanz ihres Gefieders war die reinste Augenweide ... Nach so einem Krieg, nach so viel Todeskampf, so vielen verfaulten, verwesten Menschen, die Welt so zu genießen, so glücklich zu sein! Wie gut, wie gut, dass ich nicht umgekommen bin, wie gut, dass ich diesen Tag, diese Welt erlebt habe!"

DIE AMEISENINSEL

Roman von Yasar Kemal

Unionsverlag, Zürich 2001

368 Seiten, geb., öS 284,-/e 20,66

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