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Ein neues Denkmal für den Ghazi

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Die Gestalt Mustafa Kemals, der als Kemal Atatürk der Begründer der neuen Türkei wurde, zieht auch heute noch die Geister in ihren Bann. Es ist nicht „der starke Mann“, der uns fasziniert, sondern etwas anderes: das Werk moderner Diktatoren, die in den letzten Jahrzehnten in nicht geringer Zahl über die Weltbühne schritten, überlebte ihre Herrn und Meister kaum um einen Tag. Krieg und Chaos war stets das Ende. Die Türkei aber steht zwei Jahrzehnte nach dem Tode ihres ebenso genialen wie gewalttätigen Schöpfers da als ein Vorposten der freien Welt. Die Berichte aller Besucher stimmen in diesem Punkte überein. Und von den Schlachtfeldern Koreas drang der Ruhm der türkischen Soldaten, die sich dort mit einer an die Heldenzeit ihrer Vorväter erinnernden Tapferkeit geschlagen haben ... Das Wort vom „kranken Mann am Bosporus“ ist trotz offensichtlicher wirtschaftlicher und politischer Schwierigkeiten in der Gegenwart aus dem politischen Wörterbuch gelöscht. Woher dies alles?

Wer Antwort auf diese Fragen sucht, kann an der Person des „Grauen Wolfs von Angora“, wie Kemal von den Mitverschworenen im Aufstand gegen das Sultanat genannt wurde, oder des „Ghazi“ (..Der Retter“), als den ihn die anatolischcn Bauern feierten, nicht vorübergehen.

Deswegen reiht sich das vorliegende Buch nicht nur an die bereits vorliegenden Atatürk-Biographien würdig an, es kommt zur rechten Stunde. Benoist-Mechin sieht den Sohn des in dürftigen Verhältnissen in Saloniki lebenden Beamten der Hohen Pforte, der zum Revolutionär, Staatschef und Begründer eines neuen türkischen Nationalbewußtseins aufsteigt, eingebettet in der Geschichte seines Volkes. Und tatsächlich weist Mustafa Kemals widerspruchsvolle Persönlichkeit Züge auf, die stärker an die kühnen und wilden Reiter Ertogruls erinnert, die im 13. Jahrhundert in Anatolien seßhaft wurden, als an die Wesire und Hofschranzen des späteren Ottomanischen Reiches.

Bücher haben ihr Schicksal. Das vorliegende hat sein besonderes. Es entstand im Gefängnis. Sein Verfasser wurde als Minister Petains zunächst zum Tode verurteilt und später zu zehn Jahren Zwangsarbeit begnadigt. In der Haft wurde das vorliegende Werk zu Papier gebracht. Es ist möglich, daß sein Verfasser für „starke Männer“ eine Schwäche hat. So erliegt er auch, wie er freimütig gesteht, der „Verzauberung“ der Persönlichkeit Mustafa Kemals, obwohl er sich der dunklen Schlagschatten, wie der Austreibung der kleinasiatischen Griechen — sie war das Vorbild für die „Völkerumsiedlungen“ vor und nach 1945 — sowie des hemmungslosen Wütens gegen jene Landsleute, die mit dem Tempo der Modernisierung nicht Schritt halten konnten, bewußt ist.

Das Buch ist glänzend geschrieben und zeigt wieder einmal den fundamentalen Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Historiographie. Um so nüchterner, trockener, um nicht zu sagen langweiliger ein Buch geschrieben wird, um so „wissenschaftlicher“ gilt es oft hierzulande. In Frankreich hingegen wird auch die Kunst der Darstellung nicht gering bewertet.

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