Ein Land, verdammt zur Zerrissenheit

Werbung
Werbung
Werbung

Nach den Präsidentschaftswahlen wird der größte Staat Europas nach Russland der Bedeutung seines Namens gerecht: Ukraine heißt Land an der Grenze.

Die Menschen in Kiew wirken bedrückt, sie sind reizbar und recht nervös. „Es ist eine sehr schlechte Zeit für die Ukraine, niemand weiß, wie es weitergeht“, erklärt Olena Mitschenko, Kardiologin am Nationalen Wissenschaftszentrum und Institut für Kardiologie in Kiew. Sie ist kurz angebunden und leicht irritiert. Doch dann will sie ihrem Frust doch noch weiter Luft machen: „Wir hatten eine Chance, die Freiheit zu wählen, aber nun haben wir sie vertan. Wir werden jetzt von einem Mann regiert, der von Kriminellen umgeben und selbst ein Krimineller ist. Viktor Janukowitsch ist ein primitiver Mensch. Die Menschen haben wieder Angst, sie fühlen sich bedroht.“ Hastig blättert sie durch eine ukrainische Zeitschrift, die auf Englisch verfasst ist. Ihr Blick verweilt auf einer Seite mit der Überschrift „Worst Case Scenario“, darüber ein Bild vom gerade gewählten Präsidenten Janukowitsch. „Schauen Sie her, jetzt haben wir also dieses, Worst Case Scenario‘ erhalten,“ bricht es aus der Chefärztin enttäuscht hervor.

Erstaunliches Comeback für Anti-Orange

Nach den Präsidentschaftswahlen am 7. Februar, die dem ehemaligen Verlierer der Orangen Revolution Janukowitsch ein erstaunliches Comeback in die ukrainische Politikszene ermöglicht haben, ist das Land polarisierter als je zuvor. Die Enttäuschung unter denjenigen, die in Julia Timoschenko ihre letzte Hoffnung auf Veränderungen gesetzt haben, ist groß. Als eine Woche nach der Stichwahl die zentrale Wahlkommission in Kiew offiziell die Ausrechnung der Stimmen bekannt gab, wurde klar, dass Janukowitsch mit 48,95 Prozent der Stimmen und mit einem knappen Abstand von 3,5 Prozent gegenüber Timoschenko der endgültige Sieger der Wahl ist. Doch seine Erzrivalin Timoschenko gab sich noch nicht so schnell geschlagen. Sie reichte eine Beschwerde beim Kiewer Verwaltungsgericht ein und sprach von massivem Wahlbetrug, wobei sie dem Gericht als Beweismaterial Videoaufnahmen und Fotos vorlegte. Die zentrale Wahlkommission setzte daraufhin das verkündete Wahlergebnis vom 7. Februar außer Kraft. Das Verwaltungsgericht folgte allerdings nicht der Forderung Timoschenkos, die Amtseinführung Janukowitschs am 25. Februar zu verbieten. Am vergangenen Wochenende hat Timoschenko schließlich doch doch ihre Niederlage eingesehen und ihre Klage zurückgezogen.

Der ehrgeizige und populistisch geführte Wahlkampf von Timoschenko reichte also nicht, um das höchste Amt im Land zu erklimmen. Zu einstimmig war das Urteil über den Verlauf der Wahlen von Seiten der internationalen Wahlbeobachter der OSZE, der NATO und des Europaparlaments ausgefallen, die diese als „fair, transparent und demokratisch“ eingestuft hatten. Der OSZE-Parlamentarier Joao Soares, der die internationale Wahlbeobachtermission in der Ukraine leitete, lobte sogar das ukrainische Volk für den korrekten und guten Verlauf der Wahlen und ließ den beiden wahlkämpfenden Politikern ausrichten, „auf das Urteil der Menschen zu hören, und sicherzustellen, dass der Machtwechsel nun friedlich verläuft“. Er riet „dem Verlierer der Wahl, das Ergebnis zu akzeptieren und dem Gewinner die Hand zu reichen“.

In der Wahlzelle: Tinte, die unsichtbar wird

Im FURCHE-Interview (siehe Seite 23) räumte der Leiter und Projekt-Koordinator des OSZE-Büros in Kiew, Botschafter Lubomir Kopaj, jedoch ein, dass „die ukrainische Wahlgesetzgebung noch in vieler Hinsicht verbessert werden“ müsse. In der Tat waren in den letzten Tagen vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen plötzlich einige Gesetzesänderungen durchgesetzt worden, die eine klare Anweisung der zentralen Wahlkommission unmöglich machten und die lokalen Wahlbehörden verunsicherten. So war es unter anderem für Wähler möglich geworden, noch im letzten Moment ihre Namen auf die Wählerliste zu setzen, ohne dafür einen gerichtlichen Bescheid einholen zu müssen.

„In die abgelegenen Dörfern der Ostukraine und bei den Krim-Tartaren hat sich sicher keiner der Wahlbeobachter hinverirrt. Da konnten die Kommissionsmitglieder der Wahllokale in Ruhe ihre leeren Wahlzettel zählen und sie Janukowitsch zurechnen“, erklärt irritiert Olena Mitschenko, die fest davon überzeugt ist, dass in diesen hintersten Dörfern der Ukraine massive Wahlmanipulationen passiert sind.

Um das Thema „leere Wahlzettel“ hatte sich während der Wahlen ein kleiner Krimi abgespielt. Als ein deutsches Team von Wahlbeobachtern zu einem Wahllokal in Bela Cerkva kam, wurden sie bereits von der Polizei informiert, dass in den Wahlboxen die Kugelschreiber ausgetauscht worden waren. „Als sie die ausgetauschten Kugelschreiber auf einem Stück Papier ausprobierten, stellten sie nach einigen Minuten fest, dass die Tinte plötzlich verschwunden war“, erzählt Herbie, der als Wahlbeobachter der OSZE in dieser Region eingesetzt war. Daraufhin habe man auch die signierten Stimmzettel kontrolliert und bemerkt, dass auch hier bei zehn Prozent der Zettel die Tinte verschwunden war. Die Geschichte klingt wie ein Streich schlimmer Buben, die sich einen Jux aus der Wahl machen wollten. „Das kann kein Bubenstreich sein, dafür waren sie zu gut organisiert“, meint Herbie und erklärt, dass sich dieser Vorfall in 18 anderen Wahllokalen in den Regionen von Luhansk und Odessa wiederholt haben soll. „Das heißt rund eine halbe Million Menschen sind davon betroffen. Da wollte jemand massiv das Wahlergebnis beeinflussen.“ Doch bis heute ist nicht klar, wer diesen Streich angestiftet hat.

Zu viele glaubten nicht an das Ukraine-Herz

Die etwas sprunghafte Timoschenko, die für ihre Unberechenbarkeit bekannt ist, hatte während ihres Wahlkampfes für den BYT (Block Yulia Timoschenko) mit einem rotgefärbten Herzen auf weißen Hintergrund geworben, aus dem ihr Kopf mit der nicht zu verwechselbaren ukrainischen Haartracht hervorschaut, der sie zur „Ikone der Ukraine“ stilisiert. Während sie ihrem Kontrahenten Korruption und Lügen vorwarf, sprach sie von ihrer „Liebe zur Ukraine und zu den Menschen“. Sie zeigte denjenigen, die noch nicht endgültig von der Politik desillusioniert waren, einen Strohalm der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, an den sich diese anklammern konnten.

Nächste Zerreißprobe für die Ukraine

Doch jetzt ist die Ukraine erneut vor eine Zerreißprobe gestellt: Wird die streitsüchtige Julia Timoschenko nun in die Opposition wechseln, um von dort aus ihren politischen Einfluss auf das Land auszubauen, oder wird sie sich aus der Politik endgültig zurückziehen? Wird sie sich weiterhin die Sympathie im Westen des Landes bis in die Kiewer Region sichern können, oder wird Janukowitschs „Partei der Regionen“ nun allmählich überall das Sagen haben? Timoschenko ist nicht eine, die schnell aufgibt. Dafür war sie zu lange in ihrer Jugend eine erfolgreiche Leichtathletin, bis sie, durch einen Unfall gezwungen, vom Sport Abschied nahm und in das Gasgeschäft und auf die politische Karriere umsattelte.

Leonid Sokolov, ein Parlamentsabgeordneter des Timoschenko-Blocks und für religiöse und humanitäre Angelegenheiten in der Partei zuständig, ist über den Ausgang der Wahlen enttäuscht. Er will sich in Zukunft aus der Politik zurückziehen und sich ausschließlich der humanitären Hilfstätigkeit widmen. „Hier werde ich mehr gebraucht als in der Politik.“ Ob Timoschenko in die Opposition gehen wird, kann er noch nicht bestätigen: „Eine Opposition zum Volk nein, aber zu Janukowitsch ja.“

Doch sogar in Kiew, der Timoschenko-Hochburg, steht das Volk nicht mehr so eindeutig hinter der schönen Julia: „Timoschenko redet nur viel, aber sie tut nichts für das Land. Also habe ich Janukowitsch meine Stimme gegeben“, wettert ein Taxifahrer aufgebracht und meint: „Jetzt können wir nur abwarten und schauen, was passiert.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung