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Dialektische Literaturkritik

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Ein neuer Band des deutschen „Groß-Kritikers“ liegt vor. Er, Marcel Reich-Ranicki, wurde 1920 als Sohn eines Polen und einer Deutschen in Wloclawek geboren und maturierte 1938 in Berlin. Zu Beginn des Krieges nach Polen deportiert, lebte er später im Untergrund und blieb nach Kriegsende dort: als Verlagslektor, nachher als freier Schriftsteller. Nachdem es zu Schwierigkeiten mit dem Regime gekommen war, übersiedelte Reich-Ranicki 1958 in die Bundesrepublik und brachte es bald zu Ansehen, vor allem als kritischer Experte für deutsche Prosa.

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Ein neuer Band des deutschen „Groß-Kritikers“ liegt vor. Er, Marcel Reich-Ranicki, wurde 1920 als Sohn eines Polen und einer Deutschen in Wloclawek geboren und maturierte 1938 in Berlin. Zu Beginn des Krieges nach Polen deportiert, lebte er später im Untergrund und blieb nach Kriegsende dort: als Verlagslektor, nachher als freier Schriftsteller. Nachdem es zu Schwierigkeiten mit dem Regime gekommen war, übersiedelte Reich-Ranicki 1958 in die Bundesrepublik und brachte es bald zu Ansehen, vor allem als kritischer Experte für deutsche Prosa.

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Eine Reihe von Sammlungen seiner Arbeiten in Buchform, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, sowie eine mehrbändige Anthologie deutschsprachiger Geschichten erzielten erstaunlich hohe Auflagen. Mehrmals wurde er als Gastprofessor für deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts an ausländische Universitäten berufen. Es ist kein Widerspruch, wenn man sagt, daß Marcel Reich-Ranicki seit rund anderthalb Jahrzehnten als dominierender und zugleich besonders umstrittener Literaturkritiker der Bundesrepublik gilt. Warum? Er formuliert seine Analysen überaus eingängig, pointiert effektsicher, findet aber bei allem, was er serviert, ein Haar in der Suppe. Nichts auf der Welt ist fehlerfrei, gewiß: eine Lobeshymne ohne den Mißton eines Fehlerhinweises wäre bei Reich-Ranicki schwerlich zu finden. Als 1970 „Lauter Verrisse“ von ihm erschienen, hängte er statt eines Nachwortes über sich selbst den radikalen Verriß „Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit“ von Peter Handke an.

Als neuestes erschien nun der 300- Seiten-Band „Nachprüfung“, „Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern“. Er beginnt mit Theodor Fontane und Arthur Schnitzler und reicht über Hofmannsthal und Karl Kraus bis zu Ödön von Horvath und Klaus Mann, im ganzen 32 Artikel, 1961 bis 1977 in Zeitungen oder Zeitschriften (teils in gekürzter Form) erschienen, 21 Autoren mehr oder minder ausführ lich interpretierend: neun von ihnen waren Österreicher, österreichischer Herkunft oder Wahlösterreicher. Grund genug, dieses kleine Kompendium zu beachten.

Nein, es handelt sich nicht um einen systematischen Rückblick, wiewohl das „Nachwort“ betont, daß der Plan zu diesem Buch auf das Jahr 1968 zurückgeht und „nahezu alle hier vereinten Aufsätze für diesen Band geschrieben“ wurden. Es sind lauter Stichproben, nachprüfend, ob das Werk eines namhaften Schriftstellers von gestern heute noch hieb- und stichfest ist. Die Themenauswahl kam zustande nach aktuellen Anlässen (Gedenktage, Neu-Editionen) und nach persönlichem Geschmack. Die beinahe in jedem betrachteten Fall virtuos durchgehaltene Untersuchungstechnik ist unverkennbar dialektisch: Das Für und Wider ist, meist in didaktisch vereinfachender Weise, publikumswirksam hervorgehoben, Uberoder Unterschätzung werden einan der gern mittels drastischer Beispiele gegenübergestellt, Vorurteile sollen korrigiert werden: die Lektüre erweist sich also fast immer als lehrreich.

Dieses „fast“ bezieht sich auf die einzige Ausnahme, nämlich auf die (besonders oberflächlich geratene) Fehleinschätzung der Ausnahmeerscheinung Karl Kraus. Bei diesem Schriftsteller verliert Reich-Ranicki seine sonst souveräne Balance und damit sein gewohntes stilistisches Niveau. Die billigsten Abwehrklischees, die längst schon zum publizistischen Ramsch gehören, erscheinen ihm teuer, er sagt alles energisch nach, was nie der kritischen Rede wert war und läßt unbeachtet, was während der letzten Jahre wissenschaftlich über Karl Kraus erarbeitet wurde. Was ihm sonst nie passiert: Reich-Ranicki verirrt sich in unbeweisbare und haltlose Schmähungen, wie „hysterisch“, „heuchlerisch“, „Allüren eines Provinzdiktators“ und so weiter, schreibt falsche Jahreszahlen aus dubiosen Quellen ab und beweist damit, daß er die seriöseren außer acht gelassen hat. Karl Kraus war schon immer ein intellektueller und moralischer Testfall. Man weiß jetzt, wo die geistigen Grenzen des ansonsten brillanten Journalisten und versierten Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki liegen.

NACHPRÜFUNG. Von Marcel Reich-Ranicki. R. Piper & Co. Verlag, München 1977, 312 Seiten,

öS 246.40.

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