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Wie hast du's mit der Wirklichkeit?

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LITERATUR DER KLEINEN SCHRITTE. Deutsche Schriftsteller heute. Von Marcel Reich-B a n I c k 1. Verlar R. Piper u. Co., München. 363 Selten. DM 19.80.

Marcel Reich-Randcki besitzt eine Eigenschaft, die heute viele Menschen, Autoren und gar Kritiker verloren haben: die Fähigkeit, ja oder nein zu sagen. Man braucht seine Aufsätze nicht zweimal zu lesen, ehe man weiß, was er meint. Da wird nicht postuliert, was nachher wieder halb oder ganz zurückgenommen wird. Reich-Ranicki hat den Realismus zum kritischen Prinzip gemacht. Wer ihn zitiert, braucht nicht zu fürchten, daß er einem wieder entschlüpft. Er ist ein literarischer Konsumentenberater für den praktischen Gebrauch. Was natürlich nicht auf einen Baumeister für Eselsbrücken hinausläuft.

Dieser Vorteil für den Leser ist dem Autor nicht immer ein Labsal. Reich-Ranicki bietet Angriffsflächen, wie sie so leicht kaum ein anderer namhafter Kritiker bietet. Gegen ihn Stellung zu nehmen, gegen sein neues Buch — im wesentlichen eine Sammlung von Aufsätzen aus der Hamburger „Zeit“ — zu polemisieren, ist gar keine Kunst.

Wer heute über Gegenwartsliteratur ein Urteil abgibt, nimmt stets einen Ted! fürs Ganze. Und selbst von diesem Teil spricht er in Vorläufigkeiten. Denn er berichtet ja von einem dynamischen Prozeß, von einem reißenden Fluß, von dem er selbst mitgetragen wird, in dem oder an dem er keinen festen Standort hat. Die Fülle der erscheinenden und noch mehr die Fülle der nicht erscheinenden Werke ist so groß, daß kein Mensch in der Lage ist, sich einen endgültigen Uberblick zu verschaffen. Auch Marcel Reich-Ranicki nicht.

Das soll kein Vorwurf sein. Der Vorwurf lautet: Ein Kritiker muß sich dieser ihm aufgezwungenen Beschränkung bewußt sein und er muß auch von diesen Schwierigkeiten sprechen. Sonst entsteht der Eindruck eines allwissenden Halbgottes, sonst wird eine falsche Autorität aufgebaut. In dieser Beziehung ist Reich-Ranicki der große journalistische Taschenspieler. Er täuscht etwas vor, was er nicht hat, weil er es gar nicht haben kann.

Bs ist nur zu bekannt, welcher Teffl von diesem Kritiker fürs Ganze genommen wird: Kern und Peripherie der „Gruppe 47“. Das wachsende Unbehagen an dieser Gruppe („Viel Neider — viel Ehr'!“) gründet sich nicht so sehr auf ihre eben auch vorkommenden Fehlleistungen, sondern auf den Alleinanspruch, den sie trotz gegenteiliger Behauptungen erhebt. Reich-Ranickiis Buch ist wieder ein Paradebeispiel dafür, mit welcher Ignoranz die Gruppe einfach übersieht und überschweigt, was nicht zu ihr gehört. Für österreichische Verhältnisse ist das noch schlimmer als für deutsche. Denn der Anteil an gültiger Gegenwartsliteratur, die nicht durch 47 teilbar ist, ist hierzulande noch etwas größer als in Deutschland. Nicht, daß Reich-Ranicki so verfährt, ist ihm vorzuwerfen. Sondern

daß er stillschweigend so verfährt. Daß er alles, was außerhalb steht, einfach bagatellisiert.

Mit Lob geht Reich-Ranicki um wie mit Gift. Das gilt auch für seine Gruppenleute. Ja, es scheint, als ob gegen manche 47er kaum je von anderer Seilte mit solcher Härte ins Gericht gegangen worden wäre. Reich-Ranicki ist ein Schrittmacher, kein Königsmacher!

Wie schon erwähnt, die Angriffsfläche ist breit. Zweifel und Widerspruch ist vor allem anzumelden wider jene Vergötzung der „Wirklichkeit“, mit der bei unserem Kritiker die Literatur und die Welt steht und fällt.

Wirklichkeit als literarisches Kriterium ist wieder nur ein Teil fürs

Ganze. Ich werde den Verdacht nicht los, daß die Wirklichkeitsfanatiker ebenso gerne von der Wirklichkeit reden wie die Atheisten von Gott. Das Problem wird zur Bedingung hochgespielt, als wäre es eine Konfession.

Dabei ist es vielleicht das Gegenteil: ein Alibi für eine metaphysische Deutung. Oder ist es etwa ein Zufall, daß Reich-Ranicki in die Gretchenfrage die „Wirklichkeit“ genau an die Stelle setzt, wo in Goethes Original die „Religion“ steht?

Ein Operieren mit der Wirklichkeit als Maß aller Dinge setzte einen Wirklichkeitsbegriff voraus, der Immanenz und Transzendenz einschließt. Ein großer Schritt, der in der „Literatur der kleinen Schritte“ nicht getan wird.

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