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Deutsche und Juden

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Diese Sammlung von Reden und Essays hat der bekannte Publizist Reich-Ranicki dem Andenken seiner von den Deutschen umgebrachten Familienangehörigen gewidmet, u. a. seinem Vater, dem Bruder und der Mutter, die eine geborene Auerbach war. Auerbach — das ist doch der Autor der einst vielgelesenen „Dorfgeschichten“, eines ebenso populären und beliebten Werks wie Mendelssohns Musik zum „Sommernachtstraum“ oder wie dessen „Lieder ohne Worte“. Es gibt also auch diese Art jüdischer Künstler. Aber Reich-Ranicki meint die anderen, die unbequemen, die kritischen, hellhörigen und satirischen, die als ein ständiges Ferment, ein „heimliches Korrektiv“ innerhalb der deutschen Literatur wirkten.

Vor einigen Jahren war in Wien eine umfangreiche Buchausstellung zu sehen von Werken jüdischer Autoren in deutscher Sprache. Diese wurde auch in Frankfurt und in München gezeigt und von Reich-Ranicki mit Ansprachen eingeleitet.

Darin ging es dem Vortragenden nicht darum, die jüdischen Autoren zu feiern, sondern — klärend und verdeutlichend — einen Aspekt der deutschen Literatur innerhalb der letzten 200 Jahre aufzuzeigen.

Stilistisch, so meint Reich-Ranicki, gibt es keine Gemeinsamkeiten zwischen den so verschiedenartigen jüdischen Dichtern und Schriftstellern. Man denke, in unserer Zeit, etwa an Peter Weiß, Wolfgang Hildesheimer, an Stefan Hermlin, Erich Fried, Paul Celan, Jakov Lind, Ilse Aichinger und Wolf Biermann. Wohl aber gab es, in der Zeit der Ersten Deutschen Republik, neben der bekannten „Intensität“ der jüdischen Autoren, einen gewissen Hang zum intellektuellen und ästhetischen Extremismus.

Eher aus den Tagebüchern und den oft erst postum veröffentlichten Briefen geht hervor, daß viele jüdische Autoren ihr Schicksal wie eine Last oder resignierend, andere freilich wie ein Banner trugen.

Bei vielen kann man von einer „Außenseiterposition“ sprechen. Wir finden sie, von Einsamkeit und Trauer gezeichnet, bei Franz Kafka, von Schwermut und Schwärmerei bestimmt bei Joseph Roth und Ernst Toller, von Mystizismus und Ekstase verklärt bei Else Lasker-Schüler. Einen ganz anderen Typus repräsentieren etwa Alfred Kerr und Kurt Tucholsky. Hier dominieren, als Haupteindruck, Aggressivität und Provokation. Neben ihnen und zur gleichen Zeit gab es aber auch Erzkonservative und deutsche Traditionalisten unter den jüdischen Autoren, besonders im George-Kreis oder Umkreis, wie Gundolf, Borchardt, Wolfskehl und den Historiker Kan-torowicz.,

Ein besonderer Fall ist Heinrich Heine. Kein deutscher Dichter wurde zu seinen Lebzeiten so heftig angefeindet, keiner freilich hatte auch ein so starkes Echo im Ausland. Sein Werk ist gekennzeichnet durch aphoristische Prägnanz, witzig-exakte, oft überspitzte Formulierungen, durch Anmut, Charme, Eleganz, Esprit, Rationalität und Frivolität — lauter Eigenschaften, die der deutschen Literatur seiner Zeit abgingen. Er ist der eigentliche Vater des poetischen Jour-nr1 :imus und wurde daher auch von Karl Kraus so heftig attackiert. Auch heute ist das Heine-Bild im Bewußtsein der Deutschen nicht klar: der Rauch der Bücherverbrennungen und der Gasöfen verdüstert die Sicht. Horst Krüger schrieb einmal, irgendwie habe Hitler uns allen einen Sprung beigebracht, die einen decken zu, die anderen decken auf, es seien zwei Seiten derselben Medaille.

Heine ist also in mehrfacher Hinsicht ein Modellfall, sein Ruhm war immer auf des Messers Schneide. Und auch das Schicksal des Emigranten hat er späteren Generationen vorgelebt: seine Haßliebe zu Deutschland, seine Existenz als freier Schriftsteller, der genötigt wurde, ein europäischer Autor zu werden, der aber seine Sprache als „portatives Vaterland“ behielt. — In neuerer Zeit hat sich am gründlichsten und offenherzigsten Jakob Wassermann mit dem Problem auseinandergesetzt: in der 1921 erschienenen Studie „Mein Weg als Deutscher und Jude“, und wir können seines hundertsten Geburtstages nicht besser gedenken, als indem wir sie wieder einmal zur Hand nehmen.

ÜBER RUHESTÖRER. Juden in der deutschen Literatur. Von Marcel Reich-Ranicki. Serie Piper.

R. Piper & Co., Verla, München, 102 Seiten.

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