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Digital In Arbeit

Die Gewänder der Toten

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Wer in diesem Buch blättert, den oder jenen Autor nachschlägt und zu lesen beginnt, der ist versucht, das Lied vom braven Mann anzustimmen, von jenem Mann nämlich, der die Idee gehabt hat, durch Buchausstellungen und Dokumentationen den jüdischen Autoren in deutscher Sprache ein Denkmal zu errichten: die Großen, Berühmten, auf dem Parnaß zu versammeln und an die weniger Bekannten, Vergessenen zu erinnern. Desider Stern, Jahrgang 1907, hat, nach jahrelangem Selbststudium, also als Autodidakt, anläßlich einer Ausstellung im Wiener Künstlerhaus zum erstenmal einen Katalog jüdischer Autoren herausgegeben. Die vorliegende 3. Auflage, sehr wesentlich erweitert und auch schöner ausgestattet, ist mit ihren 750 Kurzmonographien und Werkverzeichnissen ein richtiges Buch geworden. Und zwar eines der spannendsten und bewegendsten, das uns seit langem in die Hände gekommen ist, obwohl eigentlich nur eine Art Lexikon.

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Wer in diesem Buch blättert, den oder jenen Autor nachschlägt und zu lesen beginnt, der ist versucht, das Lied vom braven Mann anzustimmen, von jenem Mann nämlich, der die Idee gehabt hat, durch Buchausstellungen und Dokumentationen den jüdischen Autoren in deutscher Sprache ein Denkmal zu errichten: die Großen, Berühmten, auf dem Parnaß zu versammeln und an die weniger Bekannten, Vergessenen zu erinnern. Desider Stern, Jahrgang 1907, hat, nach jahrelangem Selbststudium, also als Autodidakt, anläßlich einer Ausstellung im Wiener Künstlerhaus zum erstenmal einen Katalog jüdischer Autoren herausgegeben. Die vorliegende 3. Auflage, sehr wesentlich erweitert und auch schöner ausgestattet, ist mit ihren 750 Kurzmonographien und Werkverzeichnissen ein richtiges Buch geworden. Und zwar eines der spannendsten und bewegendsten, das uns seit langem in die Hände gekommen ist, obwohl eigentlich nur eine Art Lexikon.

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Die Größe, Bedeutung und Tragweite des jüdischen Anteils am deutschen und europäischen, ja am Geistesleben der ganzen Welt ist schon allein durch die Namen Marx, Freud, Einstein, Husserl und Kafka signalisiert. In alphabetischer Reihenfolge finden wir hier fast alle jüdischen Autoren, die sich der deutschen Sprache bedient haben, von Alfred Adler und Ilse Aichinger bis Zweig und Zwillinger. Fast alle, nicht alle: denn nur diejenigen wurden aufgenommen, die sich nicht der Kennzeichnung als „Juden“ widersetzt haben. Auch wir wollen ihre Namen hier nicht nennen, wohl aber die der Österreicher Reinhardt, Schnitzler, Joseph Roth, Werfel, Kafka, Brod, Hilde Spiel und Friedrich Torberg, die in dem Buch verzeichnet sind. Zwei Verszeilen des letzten stehen als Motto auf der 1. Seite und über Desider Sterns Arbeit: „Aber wo ich auch gehe, flattern die dunklen Gewänder der Toten um mich.“ Dem Gedenken an die Toten der Vernichtungslager, an die, die verfolgt, bedroht oder verzweifelt, ihrem Leben selbst ein Ende bereitet haben, an die, die in der Emigration gestorben sind — und den wenigen Überlebenden hat Desider Stern seine Arbeit gewidmet. Nicht um zu prahlen hat er hier die vielen berühmten Namen versammelt — neben Theodor W. Adorno steht Günther Anders, neben Julius Bab, Ernst Joseph Aufricht, neben dem Psychologen Viktor Frankl der Maler Ernst Fuchs —, sondern nur um aufzuzeigen. Denn, so meint Desider

Stern, ein Volk ist weder wegen der Geistesheroen zu loben, noch wegen der Verbrecher, die es hervorgebracht hat, zu tadeln.

Die vorliegende, für die Wiener B'Nai B'rith. Loge hergestellte Ausgabe wurde von Oberrabiner Akiba Eisenberg und mehreren Honoratioren Österreichs und der Deutschen Bundesrepublik eingeleitet. Leider fehlt der Wortlaut jener Rede, die bei der Eröffnung der Wiener Ausstellung der damalige Botschafter von Israel, Dr. Michael Simon, gehalten hat, und die unter dem Motto „Ein Abschied“ stand. Überblickt man nämlich die deutsch-jüdischen Beziehungen genauer: jenen Zeitraum, in dem sich jüdische Autoren der deutschen Sprache bedienten, der 1780 mit der Ubersetzung des Alten Testamentes durch Moses Mendelssohn begann (der 1. Band erschien 1780), so kommt man auf ungefähr 150 Jahre. In all dieser Zeit hat es keine eigentliche Symbiose, nicht einmal ein Miteinander der beiden Völker gegeben, sondern bestenfalls ein Nebeneinander. Der Dialog, von dem jetzt so viel die Rede ist, den man wieder aufnehmen will, hat nie stattgefunden: es war ein Monolog, ein Werben um Verständnis und Liebe, oft erniedrigend, selten erfolgreich. Und je erfolgreicher die einzelnen Juden waren, um so mehr wurden sie gehaßt. Darum sei, so meinte Dr. Simon damals, diese Ausstellung, mehr als das Wort sagt, eine Vorstellung, und zwar eine Abschiedsvorstellung. Man mag diesen Pessimismus teilen oder nicht: die Symbiose zwischen den Deutschen und den Juden war ein Traum. Das Buch von Desider Stern wird ergänzt durch ein Verzeichnis der Autoren, die in jiddischer Sprache schrieben, durch eine acht Seiten umfassende Zusammenstellung der Bücher über die Verfolgung (darunter die bekannten Werke von Eugen Kogon, Emmy Bonhoefer und Simon Wiesenthal), sowie ein Verzeichnis jener Schriften, in denen nachgewiesen wird, wie Christen den Verfolgten halfen. Leider haben die Titel dieser Bücher („Unbesungene Helden“) auf zwei Druckseiten Platz. Es gibt eine Bibliographie der Exil-Literatur und ein Verzeichnis der Bücher über Israel, ein Anthologien- und ein Verlagsregister.

WERKE JÜDISCHER AUTOREN IN DEUTSCHER SPRACHE. Von Desider STERN. 3. Auflage. Im Selbstverlag des Autors, Wien, Wollzeile 20, Druck: Frühmorgen und Holzmann. 455 Seiten.

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