6814440-1972_52_12.jpg
Digital In Arbeit

Position: „Radikale Mitte“

19451960198020002020

Die ersten drei Hefte der neugegründeten Kultürzeitschrift „Die Pestsäule“ sind erschienen. Eigentümer, Herausgeber und Verleger ist der Wiener Schriftsteller Reinhard Federmann, der auch als Chefredakteur für den Inhalt verantwortlich zeichnet. Also ein Einmannbetrieh, der von erstaunlicher Courage zeugt. Je 3000 Stück wurden gedruckt, von der ersten Folge sind nur noch Restexemplare vorhanden. Die neue Zeitschrift wird von niemand subventioniert, es gibt nur einige wenige Inserate und einige wenige „Großabnehmer“. Sonst nichts. Wir haben daher zu untersuchen, was den Start dieses Unternehmens so begünstigt hat.

19451960198020002020

Die ersten drei Hefte der neugegründeten Kultürzeitschrift „Die Pestsäule“ sind erschienen. Eigentümer, Herausgeber und Verleger ist der Wiener Schriftsteller Reinhard Federmann, der auch als Chefredakteur für den Inhalt verantwortlich zeichnet. Also ein Einmannbetrieh, der von erstaunlicher Courage zeugt. Je 3000 Stück wurden gedruckt, von der ersten Folge sind nur noch Restexemplare vorhanden. Die neue Zeitschrift wird von niemand subventioniert, es gibt nur einige wenige Inserate und einige wenige „Großabnehmer“. Sonst nichts. Wir haben daher zu untersuchen, was den Start dieses Unternehmens so begünstigt hat.

Werbung
Werbung
Werbung

Federmann, Jahrgang 1923, bekannte sich einmal, etwas paradox als Mann der „radikalen Mitte“ un< definierte das so: Er gedenke au: seiner Zeitschrift alles Rückständig! und Abgestandene ebenso auszu schließen, wie das allzu selbstbe-wüßt Avantgardistische. Er ha nämlich beobachtet, daß gewiss&#171; Randerscheinungen der Gegenwartsliteratur überbewertet werden, nich zuletzt dank einiger deutscher Verlage, die grundsätzlich alles drucken wenn's nur unverständlich genug ist Dieses Genre bedarf keiner weiterer Förderung.

Für Federmann beginnt die Wel der Literatur weder 1970 noch 1945

obwohl er gerade an dieses Jahr sehr bewußt anknüpft. So finden sich im zweiten Heft Reproduktionen aus der von Hermann Hakel herausgegebenen Zeitschrift für Dichtung, Kunst und Kritik „Lynkeus“: Texte von Ingeborg Bachmann, Walter Toman, Helmut Qualtinger u. a. nebst einem ausführlichen Bericht von Hakel über jene frühen Jahre. Auch der erste größere „Block“ der 1. Nummer hat den Charakter einer Retrospektive: ,.In memoriam Paul Celan.“ Ihr Autor ist der um die deutschsprachige Literatur hochverdiente amerikanische Germanist Gerry Glenn, der speziell Celans ambivalentes Verhältnis zum Judentum untersucht. Es folgen Briefe Celans an Federmann sowie Celans Essay über den aus Saarbrücken stammenden Surrealisten Edgar Jene, dem Wien in den ersten Nachkriegs jähren zur Wahlheimat wurde — mit zwei besonders schönen, farbig reproduzierten Bildern Jenes.

Eine andere Retrospektive gilt dem Boheme-Dichter Otfried Krzy-zanowski, der 1918 in Wien verhungert ist. Uber ihn schreibt Werner Schweiger, der auch die erste und wahrscheinlich letzte Biographie und Bibliographie Krzyzanowskis zusammengestellt hat:

„Im Lebenswandel war er Peter Altenberg verwandt, ein Mensch, der um keinen Preis seine Freiheit aufgeben wollte; der grundlegende Unterschied war aber, daß Peter Altenbergs Armut bloß gespielt war, während Krzyzanowski nichts hatte, nichts verdiente und in seiner Behausung in der Wiener Vorstadt nur trockenes Brot aß. In seiner abenteuerlichen Häßlichkeit und seinem verhungerten Aussehen schien er einer von Alfred Kubtn aufs Papier geworfenen Schreckensvision entsprungen zu sein.“

Eine ausführliche Studie Darco Suvins beschäftigt sich mit den ästhetischen Ansichten Brechts. — Unter dem Titel „Das böse Wien“ sind Gespräche von Hilde Schmölzer mit Artmann, Bauer, Hrdlicka und Kreisler wiedergegeben. — „Leopoldstädter Nacht“ ist der Titel eines Fragments aus einem noch unver-

öffentlichten Theaterstück Peter von Tramins. Es gibt Prosa und Gedichte von Peter Henisch, Erika Eyer, Eduard C. Heinisch und Hans Heinz Hahnl.

Was das Ausland betrifft, so ist der Blick, wie es sich für eine österreichische Zeitschrift gehört, vor allem nach dem Osten und dem Süden gerichtet. Da steht ein Bericht über eine in Tel Aviv seit 1947 erscheinende Zeitschrift mit dem Titel „Di golden Kejt“, deren deutsch-jiddisches Idiom in hebräischen Buchstaben wiedergegeben ist. Sie enthält u. a. Gedichte und Zeichnungen von Marc Chagall (eine ist hier reproduziert); ferner Hinweise auf zeitgenössische tschechische und polnische Dichter, mit kurzen Textproben.

„Komponieren“, sagte einmal Max Reger, „ist die Kunst wie's weiter geht.“ Das gilt auch für eine Zeitschrift. Soeben ist das dritte Heft der „Pestsäule“ erschienen. Es wird, wie die vorangegangenen, durch eine Reihe von kulturpolitischen Glossen eingeleitet: über die Vorgänge rund um das österreichische PEN-Zen-trum, über den Kärntner Ortstafelkonflikt — an Hand einer Analyse von einschlägigen Ortsnamen, über das politische Fehlverhalten der Schriftsteller, mit ausführlichem Manes-Sperber-Zitat usw.

Unter dem Titel „Revolution — Parole und Wirklichkeit“ wird interessantes Material mitgeteilt, dessen literarischer Wert allerdings gering ist. Wer die blutrünstige impressionistische Prosa von Isaak Babel liest, wird den Geschmack an jeder Revolution verlieren. Das sagte in einem TV-Interview neulich auch Arthur Koestler, einer der Prominentesten auf diesem Gebiet.

In Heft 3 beginnt auch eine vielversprechende Serie über das Wiener Literaten-Cafe, die natürlich mit Kolschitzky beginnt und mit einer Geschichte des Griensteidl in der nächsten Nummer fortgesetzt wird. Der nächste umfangreiche „Block“ ist dem Andenken an Gerhard Fritsch gewidmet: persönliche Erinnerungen an Begegnungen von Reinhard Federmann, einen Teil aus einer Dissertation über Fritsch unter dem Titel „Im Kreuz der Straßen Europas“ sowie späte Gedichte und Prosa von Fritsch, die bezeugen, daß sich der freiwillig aus dem Leben Geschiedene nicht nur auf einem schweren, sondern auch auf einem unguten Weg befand. — Walter To-man, als Dichter bereits in den vorhergegangenen Heften vertreten, veröffentlicht hier eine psychologische Studie über die „Geschwistertheorie“ unter dem Titel „Wie du geboren bist“. Den Beschluß bilden, anläßlich des 80. Geburtstags des Dichters, von Ina Jun Broda aufgezeichnete Erinnerungen sowie Verse und Prosa von Ivo Andric.

Man sieht: eine Fülle, fast eine Uberfülle von Material in jedem der 96 Seiten umfassenden Hefte. Sie dokumentiert, daß Reinhard Federmann genügend Zeit hatte, sich auf seine Herausgebertätigkeit vorzubereiten und Stoff zu sammeln, ja daß sich bei ihm im Lauf der ..letzten Jahre ein ganzes Lager von Interessantem aufgestaut hat, das er einem größeren Kreis zugänglich machen möchte.

Was wir seinem Unternehmen wünschen, ist, daß es auch weiterhin die Position jener „radikalen Mitte“ ausbaut und verteidigt, von der eingangs die Rede war, und nicht zur Plattform der revolutionären Lite-, raten wird, für die die Welt erst gestern begonnen hat. Aber um das zu begreifen, muß man wohl das „Schwabenalter“ von mindestens vierzig Jahren erreicht haben ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung