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England, Schottland und Wales: Bleibt das Vereinigte Königsreich?

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Ein Vereinigtes Königsreich mit einer gemeinsamen Fahne, dem Union Jack, besteht auf der britischen Insel formell seit dem Jahre 1707, als unter Queen Anne der Unionsakt mit Schottland geschlossen wurde. Schon mehr als hundert Jahre zuvor war unter Heinrich VIII. ein ähnlicher Unionsakt mit Wales im Jahre 1535 zustande gekommen. 1921 kam es schließlich mit der Schaffung der Irischen Republik im Süden der irischen Insel zu der bis heute bestehenden, offiziellen Bezeichnung: Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland.

An diesem Gebäude wird nun schon seit einigen Jahren heftig gerüttelt -und warum sollte auch gerade Großbritannien von den Symptomen eines Nationalismus' verschont bleiben, wie er jetzt trotz seiner immanenten Para-doxie in bezug auf ganz gegensätzliche weltpolitische Tendenzen nicht nur in vielen Teilen Asiens und Afrikas zutage tritt, sondern auch im westlichen Ländern wie etwa Kanada, Spanien oder Belgien. Nachdem man die zahlenmäßig zunächst sehr geringen, aber doch sehr lautstarken Stimmen dieses Nationalismus aus Schottland und Wales jahrzehntelang in London zu überhören versucht hatte, und nachdem man sich dort auch aller Fehler und Versäumnisse einer überzentralisierten Verwaltung schuldig gemacht hatte, versucht man jetzt, von der nach alledem nun wirklich gefährdeten Einheit des Vereinigten Königreichs zu retten, was zu retten ist - übereilt, mangelhaft konzipiert und von partei-und wahlpolitischen Erwägungen aller Art belastet.

Betrachen wir zuerst den Fall Wales. Diese Provinz mit ihren über 2,7 Millionen Einwohnern hauptsächlich keltischen Ursprungs hat sich ihre historische und völkische Eigenart noch mehr bewahrt als Schottland, obwohl ihre Verbindung mit England schon über 400 Jahre alt ist. Bereits im 6. Jahrhundert war diese westliche Halbinsel von einem stolzen, nationalbewußten Volk bewohnt - eine „uralte, waffenlose Nation“, wie der englische Dichter John Milton Wales schon vor 350 Jahren nannte. Trotz ihres strikten Protestantismus sind die gesangsfreudigen Waliser im Grunde ihres Herzens Romantiker, was der aktiven Pflege von Tradition und Volkstum ebenso zugute kommt wie die eigene Sprache. Das keltische Walisisch hat nämlich den Jahrhunderten und auch den instinktlosen Unterdrückungsversuchen durch die englische Herrschaft viel besseren Widerstand geleistet als das keltische Gälisch in Schottland.

Während man dort bestenfalls von Sprachinseln sprechen kann, wird in Wales - vor allem im Norden - Walisisch von rund 50 Prozent der Bevölkerung als Umgangssprache benutzt und eifrig weiter gefordert. Und auch wirt-

schaftlich kann sich Wales sehen lassen: durch seinen großen Kohlenreichtum und der dadurch angelockten Schwerindustrie ist Wales zu einem der bedeutendsten Industriegebiete Großbritanniens geworden, und verfügt auch über eine gutgehende Landwirtschaft. Allen diesen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Unabhängigkeit zum Trotz ist die diese Forderung vertretende nationalistische Partei von Wales, Plaid Cymru, seit ihrer Gründung gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nie wesentlich gewachsen. Sie erfaßt nur etwa 10 Prozent der walisischen Wählerschaft, und selbst das gemäßigtere Verlangen nach interner Selbstverwaltung für Wales wird nur von etwa einem Drittel der Wählerschaft unterstützt.

Anders in verschiedener Hinsicht ist die Lage in Schottland mit seinen rund 5,2 Millionen Einwohnern. Hier ist es nicht so sehr die Pflege alter Traditionen und völkischen Brauchtums - die Schotten sind viel größere Realisten als die Waliser -, sondern vor allem zwei andere Faktoren, die den Ruf nach weitgehender Selbstverwaltung und sogar nach nationaler Unabhängigkeit viel lauter erklingen lassen als in Wales. Erstens ist in Schottland die Erinnerung an die eigene Souveränität, an die Glanzzeit der schottischen Stuart-Könige und an die englischen Eroberungsfeldzüge noch viel frischer als ähnliche Erinnerungen in Wales. Man schrieb immerhin schon das Jahr 1745, als der letzte Jakobiten-Aufstand der Stuart-Anhänger blutig von England unterdrückt wurde, gefolgt von der Zerstörung des uralten schottischen Clan-Systems.

Die Union mit England war stets nichts weniger als eine Liebesaffäre, und England seinerseits hat auch in diesem Jahrhundert viel verabsäumt, was dieses Verhältnis hätte verbessern können. Schottland ist weit weniger industrialisiert als Wales - Schiffbau, Kohle und Stahl - und war lange Zeit hindurch von der Londoner Regierung wirtschaftlich und sozial sträflich vernachlässigt worden. Die Arbeitslosigkeit in Schottland war durchschnittlich zweimal so hoch wie in England, das Pro-Kopf-Einkommen von fast einem Fünftel der Bevölkerung liegt an der Grenze des offiziellen britischen Existenzminimums, und 97 Prozent der ärgsten Slumgebiete des Vereinigten Königreichs liegen in Schottland.

Und gerade hier setzt der zweite Fak-

tor ein, durch den der Wunsch nach Selbstverwaltung, beziehungsweise Unabhängigkeit so sehr verstärkt und auch realistischer wurde - die ölfunde in der Nordsee. Ein unabhängiges Schottland würde, so argumentieren wenigstens die schottischen Nationalisten, die meisten dieser in schottischen Gewässern liegenden Ölquellen für sich in Anspruch nehmen und sich damit jährliche Einnahmen von über drei Milliarden Pfund sichern können — eine solide Grundlage für ein Staatsbudget. Seit die SNP, die 1934 gegründete Schottische Nationalpartei, den Schlachtruf „Schottisches öl“ auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist ihre Anhängerschaft von 11 Prozent bei den Wahlen von 1970 auf 30,4 Prozent bei den Oktoberwahlen von 1974 angestiegen, wächst ständig weiter und könnte bei den nächsten Wahlen eine schwere Gefährdung der Labourpartei darstellen, die bisher traditionell die überwältigende Stimmenmehrheit in Schottland für sich gewinnen hatte können.

So hat man also nun endlich in Whi-tehall auf alle diese Entwicklungen reagiert, und zwar mit dem Regierungsweißbuch vom November 1975, einer Gesetzesvorlage für Devolution, also für Dezentralisierung und interne Selbstregierung von Schottland und Wales. Der im ersten Parlamentsdurchgang zurückgewiesenen Vorlage folgte im vergangenen Juli eine zweite, die zwei getrennte Gesetze für Schottland und Wales vorsieht und nun schon die zweite Lesung hinter sich hat. Vorgeschlagen werden darin Landesparlamente für Schottland und Wales mit 150, beziehungsweise 80 Abgeordneten und zusätzlich zu den schon vorhandenen Volksvertretern dieser Provinzen im Unterhaus in London: Primäre Legislaturvollmachten und eine eigene Exekutivversammlung für Schottland, sekundäre Legislaturvollmachten für Wales. Außenpolitik und Verteidigung bleiben Sache Londons, ebenso EG- und Außenhandelspolitik, wenn auch die Durchführung von EG-Verordnungen den Landesparlamenten übertragen wird. Die Finanzierung der Länder soll durch jährliche Pauschalzahlungen aus London erfolgen, mit nur marginalen Steuer-einhebungsvollmachten der Landesparlamente. Die Nordseeöl-Einkünfte werden weiter von London verwaltet.

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