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Freundschaft

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Was haben wir jetzt alle für neue Freiheiten und offene Grenzen, um nicht zu sagen: grenzenlose Freiheiten! Dar- um hat auch das Jahr ganz anders begonnen als die letz- ten.

Freunde von mir sind an Silvester vom Bayerischen Wald aus in das nur eine Stun- de entfernte Budweis nach Südböhmen gefahren. Sie haben mir erzählt, daß dort Hunderte von jungen Ober- österreichern gigantische Räusche herumgezogenhaben und mit ihrem Krach jeder- zeit ein Feuerwerk ersetzen konnten.Wenn man für einen schwarz umgetauschten Schilling schon ein Krügel Bier samt Trinkgeld be- kommt, bricht einfach vor Dankbarkeit die Völker- freundschaft heraus und geht mit einem durch.

Es kann aber nur noch Monate dauern, dann werden auch die Bayern ohne Visa in die Tschechoslowakei einrei- senkönnen und für eine Mark acht Krügel Budweiser oder Pilsener in sich hineinschüt- ten können.

Die Deutschen müssen vor- erst sowieso mit ihren Freund- schaftsbesuchen noch die Brüder und Schwestern in der DDR beglücken - vor allem die Schwestern. Wo man für zwei Mark ein Schnitzel und für 50 Pfennige ein Bier be- kommt, kann auch der kleine Westmann einmal den großen Kapitalisten mit den weiten Spendier-Jeans spielen.

Selbst der flotte Kleinwa- gen des frisch ausgelernten Lehrlings macht aus ihm ei- nen Playboy, dem die verarm- ten Schwestern in der Ost- Disco kaum mehr widerste- hen können.

Nicht weniger groß ist die Freude ja auch bei uns in München oder bei Euch in Wien, wenn Abertausende von Onkeln, Tanten, Schwestern und sonstigen Brüdern aus dem befreiten Osten zu uns kommen. Sie blockieren die Straßen, besetzen die Bahn- höfe und überfluten die billi- gen Supermärkte.

Da kocht in manchem von uns die Völkerfreundschaft erst so richtig auf und man- cher würde sie sogar laut hinausschreien, wenn er in der von Trabis, Wartburgs und Ladas verpesteten Luft nicht doch lieber den Mund hielte.

Wir alle wissen ja, wie rie- sig die Freude ist, wenn man von seinen Verwandten, Freunden oder ehemals lie- ben Nachbarn lange getrennt war. Und wie es halt mit der privaten Verwandtschaft auch seit eh und je geht, so ist es nun auch mit den Völker- freunden und Staatsnach- barn: die Freude bei ihrer Begrüßung ist nur noch zu überbieten von der Freude über ihren Abschied. Das ist drüben so, das ist herüben so - die Freiheit hat uns den Alltag aller Freundschaften wiedergeschenkt.

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