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Kranksein... in Italien

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Die italienische Verfassung ist dem Buchstaben nach eine der fortschrittlichsten der Welt. Sie spricht dem Bürger nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch ein solches auf Gesundheit zu ..., während der Arbeitsminister auf den kommenden Herbst eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um 1 Million auf 2,2 Millionen Disocupati verheißt und am 29. und 30. Juli die Italiener wegen des Ärz'testreiks nicht einmal ein Recht auf Krankheit besaßen. Nach zuverlässigen Schätzungen befanden sich 88.000 von 100.000 italienischen Ärzten im Ausstand und nur höchstens die Hälfte der Notdienststeilen war in wirksamem Einsatz. Kein Wunder, wenn viele Italiener zwei Tage lang zu Hause blieben, selbst auf die Gefahr hin, daß sie weniger Geld verdienten und daß die Handelsbilanz Italiens dabei noch mehr zu Schaden kam.

Das Grundübel des italienischen Krankenwesens ist die ungeheure Verschuldung der Krankenkassen gegenüber den Spitälern in der Größenordnung von mehreren tausend Milliarden Lire. Um neben dem Zahlungsbilanzdefizit 1974 von voraussichtlich 3000 Milliarden Lire auch dieses Loch zu stopfen, kündigte die Regierung Rumor am 6. Juni eine Spitalsreform an, die besonders den Ärzten nicht in den Kram paßte. Sie enthält nämlich Normen, die der Willkür Tür und Tor öffnen, die 1970 geschaffenen Regionalverwaltungen umgehen und die Tüchtigen unter den Spitalsärzten gegenüber den „Radfahrern“ (die sich oben bücken und nach unten treten) benachteiligen. So geht aus dem Gesetzestext, der noch vom Senat gutgeheißen werden muß, hervor, daß ein Arzt, der seit 18 Monaten in der Abteilung eines Krankenhauses tätig ist, mit dem Inkrafttreten des Gesetzes automatisch zum Primario, zum Chefarzt, befördert wird. Paßt es dem Oberchef hingegen nicht, allzu viele Unterchefs neben sich zu haben, oder sind nur gewisse „Höflinge“ genehm, so braucht er lediglich einen ihm nicht sympathischen Anwärter vor Ablauf der 18 Monate zu entlassen und schon ist er, wie eh und je, Herr und Meister in seinem Hause.

Das einzig klare an dieser Spitalsreform ist die Bestimmung, daß jeder Arbeitnehmer für ein bezogenes Arzneimittel den Kostenbeitrag von 200 Lire entrichten muß und gewisse Medikamente von den Krankenkassen überhaupt nicht mehr vergütet werden. „Wer in Italien das verfassungsmäßig verbürgte Recht auf Gesundheit nicht mit Füßen getreten sehen will, muß so reich sein, daß er sich den Aufenthalt in einer teuren Privatklinik leisten kann“, lautet das traurige Fazit einer von Robert Maxwell im Auftrag des amerikanischen Health Care durchgeführten Tatbestandsaufnahme über das italienische Krankenwesen.

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