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Stellenwerte der „Geschichte“

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Ende November 1973 versprach Bürgermeister Gratz in seiner Angelobungsrede, daß in Wien die kommunalen Tarife 1974 nicht erhöht würden. Ferner setzte er sich in der Sozialistischen Partei an die Spitze jener, die ein verschärftes Preisgesetz forderten. Er, so meinte er, könne auf der Grundlage eines solchen Gesetzs dafür sorgen, daß die Preisentwicklung jedenfalls in Wien stabil verlaufen werde.

An dieses Versprechen hat sich Leopold Gratz im Laufe der letzten zwölf Monate mehrmals nicht mehr erinnert. Schon drei Wochen nach seinem Antritt als neuer Bürgermeister beschloß die Rathausmehrheit das bis dahin getränkesteuerfrei gewesene Bier in die Getränkesteuer einzubeziehen; am 22. Februar 1974 wurden der Haushaltsstrom und der Nachtstrom rückwirkend um 11,4 bzw. 20 Prozent angehoben; am 29. März wurden die Bestattungstarife auf bis zu 50 Prozent erhöht; am 9. April wurde die Pflegegebühr in Krankenhäusern um 43,5 Prozent erhöht; am 18. April 1974 wurden die

Tarife für das sogenannte „Kinder- und Schüleressen“ um 11,1 Prozent angehoben; am 5. Juli beschloß die Mehrheit im Wiener Gemeinderat ein Parkometergesetz; am 24. September 1974 wurden die Altersheimpflegegebühren um 35,6 Prozent und am 27. September 1974 wurden schließlich die Rettungsgebühren um rund 40 Prozent angehoben.

Das alles schien unter der Lawine der diversen Preis- und Tariferhöhungen, fast unterzugehen. Bloß die Erhöhung der Heizkostentarife um 56 Prozent rief einige Demonstranten auf den Plan. Nun aber scheint es, als hätte Leopold Gratz die Grenzen des politisch und wirtschaftlich Möglichen ausgeschöpft: am 13. Dezember 1974 beschloß die Mehrheit im Wiener Gemeinderat und Landtag eine Erhöhung der Straßenbahntarife um 33, des Gaspreises um 51 und schließlich auch noch des Strompreises zwischen 50 (Nachtstromtarif) und 150 (Haushaltstarif) Prozent. Um das Inflationsfaß voll zu machen, schlug Bürgermeister Gratz (und zwar gegen die überwiegende Par- teimeiniung) auch noch vor, den Wiener Autofahrern einen Zuschlag von 100 Prozent Kraftfahrzeugsteuer zu diktieren und ihnen dafür eine „Gratis’-Netzkarte für die Benützung der Stadt- und Straßenbahn zu geben. Bei diesem Vorschlag ist noch nicht ausdiskutiert, ob die lOOprozen- tige Erhöhung der Kraftfahrzeugsteuer auch für gewerbliche Transporteure gelten soll. Ihnen ist schließlich die Möglichkeit eines Um- steigens auf die Straßenbahn verwehrt. Jedenfalls hat die jüngste Gratz-Bombe in SPÖ-Kreisen tief eingeschlagen; als erster erholte sich der ARBÖ von der Detonation und verwarf die Gratz-Idee „ala nicht zielführend“. Abgedruckt wurde diese Erklärung in der „Sozialistischen Korrespondenz“, zu deren Herausgebern Leopold Gratz als stellvertretender SP-Parteiobmann zählt.

Ende September 1974 veröffentlichte das Wirtschaftsforschungsinstitut die erste Wirtschaftsprognose für das Jahr 1975. Darin heißt es, daß die Verbraucherpreise um etwa 9,5 Prozent steigen werden. Ende November wurden vorsichtige und inoffizielle Korrekturen an dieser Prognose laut. Nun heißt es, daß die Inflationsrate im kommenden Jahr bei etwa 11 Prozent liegen könnte. Mitte Dezember, also nach den Tariferhöhungsbeschlüssen des Wiener Gemeinderats, islt man geneigt, anzunehmen, daß die Inflationsrate im kommenden Jahr auch bei etwa 12 Prozent liegen könnte. Nach ersten

Berechnungen ist zu erwarten, daß die im Wiener Gemeinderat beschlossenen Tariferhöhungen für Straßenbahn, Gas und Strom mit etwa 1,2 Prozent auf den Index durchschlagen werden.

Die „Arbeiter-Zeitung“ überschrieb einen Bericht über die Beratungen im Wiener Gemeinderait mit dem Titel: „Stadtwerke — mit großer Lücke“. Man erwartet, heißt es, für das Jahr 1975 eine Finanzierungslücke in der Höhe von 983 Millionen Schilling und beklagt sich darüber, daß die veröffentlichte Meinung die Probleme nicht korrekt wiedergebe. Leopold Gratz sieht das anders: „Nicht als Gemeinwesen, das 1975 die Tarife erhöht hat, wird Wien in die Geschichte eingehen, sondern als Stadt, die für die Zukunft gebaut hat.“ Denn, so meinte er, machen „Großprojekte, wie die UNO-Ciity und die Donauinsel das Bild einer Stadt aus“.

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