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Politische „Sittengeschichte“

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Drei Wochen lang schrieb die Tageszeitung „Kurier“ in einer Fortsetzungsserie die Chronik einer „verkauften Stadt“, Auszüge aus der politischen „Sittengeschichte“ der Bundeshauptstadt. Drei Wochen lang wurde in zweiundzwanzig Folgen festgehalten, was gelegentlich hinter vorgehaltener Hand geraunt wurde: die Verfllzung von Wiener Stadtverwaltung und sozialistischem Parteiapparat, Schulbeispiele für ausgeübte Parteimacht auf Kosten der Wiener Steuerzahler, Skandale, hart an der Grenze strafrechtlicher Verfolgung.

„Das häßliche Gesicht des Kapitalismus“ — im sozialistisch verwalteten Wien wurde es freigelegt. Frei nach Bertolt Brecht zeigte sich am Beispiel des gemeindeeigenen „Baurings“, der Bomberbasen in Saudiarabien für den Kampf gegen Israel baut, daß in Wien offenbar erst der Profit kommt und dann die politische Moral. Wohl in jeder anderen demokratisch organisierten Stadt der Welt müßten derlei Veröffentlichungen zu einer totalen Veränderung der politischen Verhältnisse führen, würde jene politische Gruppe, die praktisch und faktisch unwidersprochen aus der Zuordnung politischer Mandate den Auftrag zur mißbräuchlichen Verwendung von Steuergeldern ableitet, von der Bildfläche weggefegt werden. In Wien freilich hoffen die Sozialisten und hofft der neue Bürgermeister Gratz, daß die Uhren anders gehen. In Wien geht das politische Leben auch dann weiter, wenn längst klar geworden ist, daß darin ein profit- und machtgieriger Wurm sitzt, der, mit Steuergeldern gepäppelt, die Rathausverwaltung beherrscht. „Wien unsere Stadt — SPÖ unsere Partei“, ein Gedanke, der, sollte er sich im Oktober erneut in die asolute Mehrheit einer Partei umsetzen, die Vorstellung nährt, daß dieses Wien Wien bleibt.

Die repräsentative Demokratie lebt im wesentlichen vom Vertrauen der Wähler zu den Gewählten. Daß dieses Vertrauen schwindet, ja durch die Probsts, die Hellers, die Hoffmanns, den sozialistischen Funktionärskader in Wien schwer erschüttert wird, sollte dem neuen Bürgermeister Gratz, der ja einige sehr vernünftige Äußerungen über demokratische Organisation und demokratisches Verhalten abgegeben hat, als besonders schrilles Alarmsignal in den Ohren klingen.

In seiner ersten Stellungnahme zu den schwerwiegenden Vorwürfen gegenüber den Transaktionen und Machinationen der Rathausverwaltung hat Gratz die Meinung vertreten, daß ganz offensichtlich ein Informationsmangel der Wiener Bürger vorliege, den es abzubauen gelte. Gleichzeitig aber war er bis heute nicht bereit, eine Reihe von bislang geheimgehaltenen Untersuchungen der Stadt Wien selbst an alle Gemeinderäte weiterzuleiten. So hält z. B. die Rathausverwaltung in Wien zahlreiche Berichte des Hamburger Stadtökonomen Prof. Jürgensen zu-, rück, von denen man weiß, daß sie die Grundlage der Planungsarbeit im Wiener Rathaus sind. Wie inzwischen durchgesickert ist, wird in einem der genannten Berichte der Stadtverwaltung empfohlen, aus den Innenbezirken (3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9) rund 300.000 Wiener bis zum Jahre 1980 in die Randzonen Wiens umzusiedeln. Zuletzt hat Fritz Hahn von der Wiener ÖVP Bürgermeister Gratz aufgefordert, diese Unterlagen zu veröffentlichen. Leopold Gratz, der sich für zusätzliche Informationen an die Bürger Wiens ausgesprochen hat, hat bis zum heutigen Datum darauf noch nicht geantwortet.

In zwei anderen, und sehr wichtigen Fragen, der der Donauinsel und der UNO-City, hat Gratz mit seinen bisherigen Äußerungen „Eiertänze“ vollführt. Vor der Presse, die das Donauinsel-Monsterprojekt zu Recht als eine für die Erholung und Freizeit der Wiener sinnlose Angelegenheit abtut, sagt Gratz augenzwinkernd, er werde diese Sache prüfen und dann wohl den Bau dieser Anlage absagen, vor sozialistischen Parteifunktionären in Floridsdorf wiederum meint er, daß die Donauinsel eine sowohl beschlossene als auch gute Sache sei;

Fast scheint es, und diese Deutung wird von hohen Wiener SPÖ-Funktionären wohlmeinend akzeptiert, als hätte Leopold Gratz noch vor seiner Wahl zum Wiener Bürgermeister durch die sozialistische Rathausmehrheit dem Wiener SPÖ-Vorstand gewissermaßen eine Loyalitätserklärung abgegeben. Denn es ist schon in den ersten Wochen der Gratzschen Amtstätigkeit als Wiener Bürgermeister spürbar geworden, daß er eine neue Fassade vor einem politisch und moralisch abgewirtschafteten System darzustellen hat. Die Tragik dieser Situation für Wien — und für den Bürgermeister selbst — wäre unverkennbar: binnen vierzig Tagen würden Hoffnungen geweckt und zerstört werden. Oder wird die Wiener Skan-dalchrondk fortgesetzt?

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