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Gentleman in Wien

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Wiens Bürgermeister Leopold Gratz weiß es ganz genau: „So wie die ÖVP im Zorn auf die Wähler, die ihr eine hoffnungslose Minderheit bescherten, gegen Wien war, so ist die ÖVP nun gegen Österreich. So, wie sie versucht hat, den Wienern ihre Heimatstadt herabzusetzen, so versucht sie nun, den Österreichern den Glauben an ihre Heimat, die Bepublik Österreich, zu nehmen“.

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Wiens Bürgermeister Leopold Gratz weiß es ganz genau: „So wie die ÖVP im Zorn auf die Wähler, die ihr eine hoffnungslose Minderheit bescherten, gegen Wien war, so ist die ÖVP nun gegen Österreich. So, wie sie versucht hat, den Wienern ihre Heimatstadt herabzusetzen, so versucht sie nun, den Österreichern den Glauben an ihre Heimat, die Bepublik Österreich, zu nehmen“.

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Dann sprach er vor Hunderten von SP-Vertrauensleuten auf einer „Wiener Konferenz“ noch von „Brandstiftung“, „Verteufelung“ und „Bürger-kriegsklima der Ersten Republik“ und entließ schließlich aufgewühlte Sektionsobmänner und Sprengelkassiere in das Ungewisse des Wahlkampfs, für den die Wiener Sozialisten so ungemein glaubwürdige Wahlplakattexte wie: „Die ÖVP will die Wiener arbeitslos machen“ einsetzen.

Tatsächlich tobt in Wien eine Wahl-„Schlammschlacht“. Der so noble Leopold Gratz hat die Parolen ausgegeben, in Sektionsversammlungen, Pensionistenkränzchen, in Stammtischgesprächen und in Betrieben sollen sie, mit Gruselgeschichten verbrämt, weitergegeben werden. Streng nach der Devise, daß Angriff allemal noch die beste Verteidigung ist.

Zur Erklärung der politischen Szene in Wien wäre eine Defensiv-Strategie tatsächlich notwendig; denn Skandale türmen sich, wohin man schaut: Der Skandal über den Endzeit-Bau des Allgemeinen Krankenhauses, wo die Baukosten heute schon das dreifache erreicht haben, die Fertigstellung jedoch nicht vor

1985 erfolgen soll; im Bauring-Skandal, wo man bei den Recherchen derzeit bei einer Schadenssumme von 970 Millionen Schilling hält und noch immer über den Verbleib von rund 70 Millionen Provisons-Schilling rätselt Vermutungen über problematische Methoden der Parteifinanzie-rurag weist Bürgermeister Gratz energisch zurück. Nun gut: in Wien brauchen undurchsichtige Angelegenheiten bis zu ihrer vollständigen Aufdeckung besonders viel Zeit. Auch das ist eines der vielen Wiener Probleme, die die Kritik an der politischen Führung der Bundeshauptstadt zu einem masochistischen Akt des Stadtpatriotismus werden läßt.

Verhältnismäßig klar liegen die Dinge dort, wo zwei hohen Funktionären der Wiener SPÖ, dem Fraktionschef des SP-Gemeinderatklubs Reinbold Suttner und dem SP-Ge-meinderat Hofstetter, angeblich persönliche Bereicherung vorgeworfen wird. Hofstetter gelang es 1973, in Döbling ein Grundstück in feinster Lage um 500 Schilling pro Quadratmeter zu erwerben. Damals lag der Quadratmeterpreis in dieser Gegend bei rund 2000 Schilling. Auf diesem Grundstück baute er mit Hilfe des Baurings, dessen Aufsichtsratsmitglied er ist, eine Villa, deren Wert auf rund 3,5 Millionen Schilling beziffert wird. Doch Hofstetter kam mit Zahlungen von 1,8 Millionen Senilling an den Bauring durch. Eine zusätzliche Pikanterie erfährt die Sache dadurch, daß SP-Gemeinderat Hofstetter bei seinem Antrag um Bauförderungsmittel (eidesstattlich) sein Jahreseinkommen unter 150.000 Schilling beziffert hat Sein tatsächliches Einkommen dürfte frei-

'lich bei rund 350.000 Schilling jährlich liegen. Ein Fall für Androsch?

In der Substanz ist die „Affäre Suttner“ ähnlich gelagert; bloß die Kosten-Einsparungen des SP-Ge-meinderatsklubobmanns hegen erheblich unter dem Hofstetter-Niveau.

Nun hat die Staatsanwaltschaft Wien auf Grund von Tatbestandsermittlungen eines Sachverständigen in die dubiosen Baugeschäfte der Wiener SP-Mandatare eingegriffen. Es ist sicher, daß die ganze Angelegenheit einmal bis nach dem Wahltag vom 5. Oktober verschleppt wird.

Leopold Gratz verhält sich auch in dieser Angelegenheit ganz so, wie er zu kommunalpolitischen Problemen steht: abwartend. Er läßt Fakten an sich herankommen, um dann ihre Behandlung immer wieder zu verschieben. Im Wiener Rathaus grassiert der Spruch, daß gegen Leopold Gratz einer seiner Amtsvorgänger, der siebzigjährige Bruno Marek, ein Ausbund von Dynamik gewesen sein soll. Längst schon sind die Gratzschen Lorbeeren vom Wahlsieg am 21. Oktober 1973 verwelkt, längst schon befindet er sich offensichtlich im Apparat des Rathaus-Systems, das völlig unbehindert seine kommunalpolitischen Kreise in Wien ziehen kann.

Ein paarmal, wenn der Parteichef auf Urlaub ist, darf Leopold Gratz über die TV-Schirme Kommentare abgeben. Dabei fällt jedesmal ein kleines Stück vom Habitus eines vornehmen Gentleman; was dann zum Vorschein kommt, ist das Profil eines

Mannes, der nun im Kampf um die Kreisky-Erbfolge seine Felle immer weiter abtreiben sieht.

Das alles ist nicht so tragisch für Bürgermeister Gratz, aber könnte tragisch für die Bundeshauptstadt sein. Spüren das hier die Wähler? Schickt deshalb die SPÖ Leopold Gratz gleich 200mal und Bruno Kreisky immerhin 43mal an die Wahlkampffront? Denn Wien ist ein ergiebiges Feld für Wechselwähler. Und starke Präferenzen für Josef Taus und Erhard Busek sind unüber-hörbar. In der Wiener SPÖ fürchtet man selbst eine Wiederholung des Gratz-Effektes aus dem Jahre 1973, diesmal aber zugunsten der neuen ÖVP-Führungsgarnitur. Nach den „Enttäuschungen“ des sogenannten Wiener Bildungsbürgertums mit Leopold Gratz scheint das auch möglicherweise tatsächlich nicht ganz ausgeschlossen zu sein.

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