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Jetzt mehr Sorge um die „Kleinigkeiten“

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FURCHE: Warum sind die Umbe-setzungen in der Wiener Landesregierung erst vier Monate nach den Gemeinderatswahlen erfolgt?

GRATZ: Es war das Wahlergebnis so, daß zwar die ÖVP nichts gewonnen hat, aber dadurch, daß eine große Anzahl von Wählern zu Hause geblieben ist, die Sozialisten prozentmäßig verloren haben. Nun war die Frage, wie man aus so einer Situation die Konsequenzen zieht. Eine sofortige Neubildung des Stadtsenates hätte, wie die Menschen eben sind, bedeutet, daß alle gesagt hätten: Wunderbar, einige Menschenopfer im Feuerofen sind gebracht, und nunmehr ist alles wieder in Ordnung.

Ich wollte das nicht. Ich habe die Partei und darüber hinaus, sogar mit sehr guter Resonanz, die Wiener zur Diskussion über die Fragen aufgerufen: Was waren die Gründe für das Fernbleiben von der Wahl? Sind'idie Prioritäten.falsch? Ist diq,. Art .der- Durchführung der •Maßnahmen' falsch? Benimmt sich die Gemeindeverwaltung schlecht? Sind die Zielvorstellungen falsch?

Und ich habe gesagt, erst nach Abschluß dieser Diskussion sollen dann einerseits Sachkonsequenzen gezogen werden und soll dann auch der neue Stadtsenat gebildet wer- i den. Ich bin nachträglich sehr froh über diese Entscheidung, weil diese Diskussion ungeheure Energien mobilisiert hat,

FURCHE: Welche Fehler hat die SPÖ vor den Wahlen gemacht? Und: Waren dafür in erster Linie die nun abberufenen beziehungsweise in ihren Kompetenzen eingeschränkten Stadträte verantwortlich?

GRATZ: Was die letzte Frage betrifft: das eindeutig nicht. Wenn man im öffentlichen Leben nur dann eine Funktion aufgeben oder in eine andere Funktion überwechseln kann, wenn man - wienerisch gesagt - „etwas ang'stellt“ hat, dann wäre das eine Versteinerung in den öffentlichen Funktionen in der Verwaltung.

Man muß zur Kenntnis nehmen, daß ein dauernder Wechsel eben gut und notwendig ist. Ich habe in allen meinen Funktionen, die ich bisher hatte, bemerkt, daß man etwa nach einer Zeitspanne von 10 bis 15 Jahren so in der Routine drinnen ist, daß es dann gut ist, sich entweder mit etwas anderem zu beschäftigen oder in die Funktion jemanden hineinzulassen, der mit neuen Ideen kommt.

Die Frage der Fehlersuche ist deshalb nicht so einfach zu beantworten, weil hier wirklich eine sehr fundierte, breite Diskussion war, wo es nicht darum gegangen ist, einzelne Fehler zu entdecken, die es in jeder Verwaltung zu Hunderten gibt, sondern die Frage zu entscheiden: Was müßte jetzt der Schwerpunkt der nächsten Jahre sein?

Hier ist herausgekommen, daß man einen Nachholbedarf an Großinvestitionen hatte, einfach dadurch, daß Wien in den Jahren von

1955 bis 1979, also in knapp 25 Jahren, das nachholen mußte, was bei einer normalen Entwicklung von 1930 bis 1979 geschehen wäre. Das ließ sicher einen Bereich etwas zurücktreten, nämlich die Beschäftigung oder die Sorge um den unmittelbaren näheren Lebensbereich der Menschen, einfach um die sogenannten „Kleinigkeiten“, die letztlich darüber entscheidend sind, ob sich ein Mensch wohlfühlt in seiner Heimat oder in seiner Umgebung. Und die Konsequenz, sich mit diesen Dingen mehr zu beschäftigen, scheint mir sehr sinnvoll und sehr gut zu sein.

FURCHE: Mit der nun angekündigten Inbetriebnahme der Vorortelinie als Schnellbahn und dem Bau der U 3 werden Forderungen der ÖVP aufgegriffen. War es auch ein Fehler der SPÖ, nicht gelegentlich zuzugeben, daß auch von der Opposition brauchbare X'orschläge kommen können? -

GRATZ:- Zuerst einmal muß ich darauf hinweisen, daß ich mein Demokratieverständnis im Jahr 1973 bei der Antrittsrede schon in dieser Form dargestellt habe. Ich sagte damals vereinfacht: Ich bin zwar in der Läge, theoretische Demokratiedefinitionen zu geben, für mich bedeutet Demokratie aber vor allem die Erkenntnis, daß auch andere Leute gute Ideen haben, auch wenn sie von der anderen Partei kommen. Das heißt, für mich ist diese Frage seit 1973 öffentlich und vorher schon in meinem Selbstverständnis eindeutig beantwortet.

Daß es gut wäre, die Vorortelinie als Schnellbahn zu haben, hat die SPÖ und habe ich nie bestritten. Es ist der Vorteil der Opposition, alles gleichzeitig fordern zu können. Die SPÖ, die Stadtverwaltung und ich selbst mußten uns überlegen: Was ist in der Reihenfolge das Wichtigere? Und wenn die Bundesbahnen eben sagen, sie haben ein bestimm-

tes Investitionsvolumen im Bereich ihrer Möglichkeiten, dann haben wir gesagt, in der Reihenfolge ist uns dann wichtiger: erstens ein echter Schnellbahnverkehr bis Lie-sing, zweitens ein Schnellbahnverkehr auf der Ostbahn mit einem möglichen Einschieifen in den Flo-ridsdorfer Ast der Schnellbahn, drittens eine Anbindung des Flughafens und viertens die Vorortelinie.

Die ersten drei Dinge sind nun im Werden, das heißt, nunmehr kann man realistischerweise sagen, jetzt ist das vierte soweit, wobei von einer Inbetriebnahme, um hier keine Illusionen zu erzeugen, während eines Jahrzehnts noch keine Rede sein kann.

Mit der U 3 ist es dasselbe. Wir haben nie gesagt, die U 3 ist nicht notwendig. Wir haben nur gesagt, gleichzeitig kann man, bei dem Geld, das uns zur Verfügung steht, eben immer nur eine U-Bahn-Linie beziehungsweise - eine Netzetappe bauen. Daß die U 3 schlecht wäre, hat nie jemand gesagt. Wir haben nur gesagt, die U 3 können wir dann beginnen, wenn das Grundnetz seiner Fertigstellung entgegengeht.

FURCHE: Woran scheitert es in Wien, daß keiner anderen Partei Amtsführende Stadtratposten angeboten werden?

GRATZ: Primär scheitert es darn, daß im Jahr 1973 die österreichische Volkspartei, weil sie glaubte, sich in dieser Form besser regenerieren zu können, in Wien in die Opposition ging. Das war eindeutig eine Entscheidung der österreichischen Volkspartei.

Ich glaube, gegenwärtig scheitert es einfach daran, daß man sich auf keiner Seite vorstellen kann, wie es funktionieren könnte im Sinne einer einheitlichen Stadtpolitik. Ich sage sehr offen, es spricht sehr viel für die Einbindung aller Parteien in die Verantwortung in der Landes-

und Stadtpolitik. Nur, wenn es so geschähe, wie es in der Vergangenheit war, wo es nicht bedeutet hat, daß man gemeinsam Stadtpolitik gemacht hat, sondern die ÖVP einige Ressorts verwaltet hat, nach dem Motto: „Ihr redet in meine Ressorts nichts drein, und ich rede in eure Ressorts nichts drein“, dann ist es in Wirklichkeit eine Aufsplitterung der Verantwortlichkeit und kein Schritt zur gemeinsamen Stadtpolitik.

Das mit der Verantwortlichkeit ist ja so eine Sache. Ich weiß, daß sich die ÖVP, seit sie in Opposition ist, mit sämtlichen Vorlagen im Stadtsenat sehr eingehend beschäftigt. Solange sie in Koalition war, hat sich die ÖVP mit den Vorlagen der sozialistischen Stadträte nicht beschäftigt und die sozialistischen Stadträte nicht mit den Vorlagen der ÖVP. Es war in Wirklichkeit keine gemeinsame Politik, sondern eine Art Machtteilung.

FURCHE: Werden Sie sich persönlich voll dafür einsetzen, daß in Wien angehende Lehrer und Kindergärtner nicht mehr nach ihrer Parteizugehörigkeit gefragt werden?

GRATZ: Ich habe schon im Gemeinderat erklärt, daß hier offenkundig von gewerkschaftlicher Fraktionsseite Fragebogen verwendet wurden, die die Stadt Wien sicher nicht braucht. Und als SPÖ-Parteiobmann, wenn ich feststellen will, wer bei unserer Partei ist, brauche ich es auch nicht, weil wir immerhin auch schon soweit sind, unsere Mitglieder im Computer gespeichert zu haben, und wenn ich einen Namen erfahre und seine Adresse, kann ich feststellen, ob er Parteimitglied ist, ohne ihm einen Fragebogen mit einer Art Erklärung vorzulegen.

FURCHE: Welches Wahlziel hat die Wiener SPÖ für die Nationalratswahlen?

GRATZ: Unser Wahlziel ist, die gegenwärtige Zahl der Mandate zu erhalten, das sind 23.

FURCHE: Ist Ihre Kandidatur für den Nationalrat nur eine Demonstration, oder werden Sie das Mandat auch annehmen?

GRATZ: Es ist eine Demonstration, die seit 1945 üblich war, mit einer Ausnahme im Jahr 1975. Der Wiener Obmann der SPÖ hat immer kandidiert, um zu zeigen, daß die Landespartei auch bei den Nationalratswahlen voll und ganz dahintersteht, ein einziges Mal nicht, im Jahr 1975, als ich aus durchaus persönlichen Respektsgründen keinen Grund gesehen habe, von dem Spitzenplatz des Wiener Obmannes den Präsidenten Probst, der bei den Wahlen 1971 in dieser Funktion kandidiert hatte und 1975 nicht mehr Obmann war, zu verdrängen. Ich nehme jetzt die Tradition wieder auf. Ich werde das Mandat sicher nicht annehmen.

FURCHE: Als Sozialist halten Sie sicher die SPÖ-Alleinregierung für die beste denkbare Regierungsform. Welche Regierungskonstellation wäre Ihrer Meinung nach im Interesse Österreichs nach dem 6. Mai die zweitbeste?

GRATZ: Das ist eine Frage, die ich nicht beantworte, denn ich bin kein Advokat. Bei der Advokatur kann man eine Frage dadurch beantworten, daß man sagt, zuerst einmal habe ich mir das Geld nie ausgeborgt, zweitens kenne ich den Herrn nicht und drittens habe ich es schon zurückgegeben. Ich bin nicht der Meinung, daß man in der Politik mit dieser sogenannten Eventual-maxime arbeiten soll, sondern ich glaube, daß für Österreich die Alleinregierung der SPÖ nicht nur das Beste, sondern auch erreichbar ist, und ich beschäftige mich daher nicht mit anderen Alternativen.

Mit Bürgermeister Leopold Gratz sprach Heiner Boberski.

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