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,,Eine Änderung der Verfassung“

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FURCHE: Das vor kurzem geänderte Wahlrecht enthielt — so argumentiert vor allem die FPÖ — starke Ungerechtigkeiten, da zur Erlangung eines Mandates je nach Partei verschieden große Stimmpotentiale nötig waren. WINKLER: Man muß das im Zusammenhang mit der Organisation unseres Wahlrechtes sehen. Das Bundesgebiet ist nach der bisherigen Regelung in 25 Wahlkreise und vier Wahlkreisverbände laufgeteilt; auf die Wahlkreise werden die Mandate je nach der Bürgerzahl jedes Wahlkreises weiter aufgeteilt. Das bedeutet: die Bürgerzahl ist ausschlaggebender Faktor und das wiederum hat zur Folge, daß dort, wo mehr Bürger sind, vor allem kinderreiche Familien, die Mandate billiger sein müssen, als in kinderarmen Gegenden. Daraus ergibt sich eine Verzerrung des Wahlrechtes, die aber durch die Verfassung gewollt ist: mehr Bürger, mehr Mandate. In Wahrheit stecken aber in dieser Ungleichheit entscheidende Kriterien einer Gleichheit — so paradox es klingt Die Unterschiede ergeben sich ja von Wahlkreis zu Wahlkreis und von Wahlkreis -verband zu Wahlkreisverband. Die Gleichheit ist insofern gegeben, als in jedem Wahlkreis jede Partei für ein Mandat gleichviel Stimmen braucht; egal wie groß sie ist.

FURCHE: Der Bürgerzahleffekt ist verfassungsrechtlich determiniert. Daneben läßt die Verfassung jedoch einen gewissen Spielraum, das Verhältnisprinzip auszugestalten.

WINKLER: Natürlich sind Korrekturen möglich, ohne am Sinn der Verfassung zu rühren. Jedes

Detail der beschlossenen Wahlrechtsreform für sich besehen mag vertretbar sein. Es ist vielleicht vertretbar, die Mandate zu erhöhen, den Berechnungsmodus zu ändern oder uniter Umständen bei den Wahlkreisverbänden etwas zu ändern. Aber hier zögert man letztlich, wenn man die Dinge etwas genauer in ihrer historischen Entwicklung überblickt, weil ein Plus und noch ein Plus der Veränderung bedeutet, daß gerade das, was die Verfassung will, zerstört wird. Die Verfassung will das Mandat an den Wahlkreis binden und das Mandat soll im Grunde beim Wahlkreis bleiben. Im Zusammenhang mit der Verminderung der Wahlkreise von 25 auf neun, der Verminderung der Wahlkreisverbände von vier auf zwei wird der Bürgerzahleffekt entscheidend beeinträchtigt. Die Unver-hältnismäßigkeiten und Ungleichheiten sind durch die neue Wahlrechtsordnung viel größer geworden, als sie es in der alten waren.

FURCHE: Ist also — Ihrer Meinung nach — durch ein einfaches Gesetz jetzt eine Änderung der Verfassung durchgeführt worden?

WINKLER: Ja, man hat durch einfache Gesetze gemacht, was man eigentlich durch eine Verfassungsänderung hätte machen müssen. Es war allen klar, daß das entscheidende Hindernis für das Ziel der jetzigen Wahlrechtsreform die Bundesverfassung ist, vor allem die Vorschreibung der Bindung an die Bürgerzahl. Weil man aber diese Bindung nicht beseitigen konnte, hat man alle Techniken, die nur irgendwie möglich waren, angewandt, um zu einem Effekt zu gelangen, der an eine Verfassungsänderung heranreicht» im großen und ganzen aber eine Verfassungsänderung ersetzen soll. Das ist — wie dm Privatrecht — ein Umgehungsgeschäft, Man will in Wahrheit etwas anderes, als das, was man in der Optik in Erscheinung bringt. Es ist nicht bloß eine Gesetzesänderung, sondern es ist materiell eine Änderung der Verfassung eingeschlossen: der Sinn der Verfassung wird durch einfach-gesetzliche Regelungen beschränkt. In welchem Maße das verfassungswidrig ist, und was vielleicht aufzuheben sein wird, ist Sache des Verfassungsgerichtshofes.

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