Der Geist, der stets VERKNÜPFT

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Das 15. Jahrhundert gestaltete sich in vielerlei Hinsicht (Buchdruck, Geldwirtschaft, neue städtische Lebensformen) als ein sich im Wandel befindendes Zeitalter. In diesen Zeiten des Umbruchs zwischen Mittelalter und Moderne versuchte Cusanus einen philosophischen Neuanfang in den Bereichen der Kirchen-,Staats-und Gesellschaftslehre. Als Gesandter von Papst Eugen IV. gehörte Cusanus der Delegation nach Konstantinopel an (1437/1438), um den Kaiser von Byzanz und die Vertreter der Ostkirche zum Unionskonzil einzuladen. Ziel war es, das Schisma zwischen römisch-katholischer und orthodoxer Kirche abzuwenden. Ab diesem Zeitpunkt, inspiriert von der griechischen Kultur und vertraut mit dem Koran, setzte sich Cusanus für religiöse Toleranz und Religionsvielfalt ein. In einem seiner Hauptwerke "De docta ignorantia" ("Von der belehrten Unwissenheit") legt Cusanus dar, dass die Vielheit die Entfaltung der Einheit ist, in der alle Gegensätze in eins zusammenfallen. Dieses Ineinsfallen der Gegensätze ermöglicht Cusanus politische und religiöse Gegensätze zu versöhnen.

Die Eroberung Konstantinopels durch Sultan Muhammed II. am 29. Mai 1453 war das endgültige Ende des "ordo christianus". Einte das Christentum bis dahin noch die damalige europäische Vielfalt von Sprachen, Kulturen, Währungen, Stadtstaaten und Fürstentümern, kam es nun an der Schwelle zur Neuzeit zu einem Paradigmenwechsel in Wissenschaft, Religion, Kunst und Politik. Ausgehend von René Descartes' "cogito ergo sum" rückte das Subjekt ins Zentrum der Realität und damit verbunden die Frage nach individueller Identität. Diese Individualisierung gipfelte im Laufe der Geschichte wiederum in der identitätsstiftenden Gründung von Nationalstaaten, in denen Volk, Staat und Sprache eine Einheit bilden.

Ausgangspunkt Dreifaltigkeit

Das Ende der Einheit der "Christianitas" im Mittelalter und die sich bereits abzeichnende nationale Entwicklung führten bei Cusanus zur Konzipierung einer dynamischen Verknüpfung von Einheit und Vielfalt. Um das Problem des Einen und der Vielen in den Griff zu bekommen, bediente sich Cusanus in "De pace fidei" ("Über den Frieden im Glauben") der philosophisch-theologischen Figur der Trinität als Konzept, durch die es möglich ist, Einheit und Vielheit zusammen zu denken. Fundamental für dieses Konzept ist der Gedanke, dass die Dreieinigkeit sich aus der Relation des Prinzips mit dem ergibt, wovon das Prinzip Prinzip ist, nämlich der Welt. Gott als Bezeichnung für das Prinzip steht demnach in einem wesensbestimmenden Relationsverhältnis mit dem, wovon es Prinzip ist, nämlich der Wirklichkeit. Aus dieser ureigenen, sowohl Prinzip als auch Wirklichkeit definierenden und bedingenden Relation ergeben sich die Vielfalt und die Einheit sowohl des Prinzips als auch dessen, wovon das Prinzip Prinzip ist, nämlich des Realen. Obwohl die Einheit als erste Bestimmung des Prinzips erscheint, ist es in einer mitbestimmenden Weise auch die Vielfalt, die sich aus den Eigenschaften der Einheit (unitas), Gleichheit (aequalitas) und Verknüpfung (connexio) ergibt. Damit erweist sich die im Prinzip gewonnene Einheit selbst als Bedingung der Vielfalt in der Welt. Auch wenn uns die Vielfalt der Welt als disparat und verbindungslos, ja, als widersprüchlich erscheinen sollte, wird sie aus dem Blickwinkel der Einheit als wachsendes Relationsgeflecht erkennbar. Diese Deutungsmetapher des "spiritus connexionis" ("Geist der Verknüpfung") wurde von Cusanus ursprünglich theologisch, dann jedoch auch politisch ausgelegt.

Die politische Einheit und Vielfalt bei Cusanus besteht darin, dass man die gegenseitige Relation der vielfältigen Religionen und Kulturen in der Perspektive der Einheit anerkennt, damit die Vielfalt überhaupt Vielfalt sein kann. Connexio ist bei Cusanus eben keine compositio der Differenzen als Mittelwert oder Summe der Teile. Cusanus' trinitarisches Modell zur dynamischen Verknüpfung von Vielfalt und Einheit verlangt gerade nicht die Übereinstimmung des Ich oder des Staates als politische Einheit mit Volk, Kultur, Sprache oder Religion. Es geht vielmehr um die unerreichbare, jedoch anzustrebende relationale Einheit der Vielfalt von Völkern, Kulturen, Sprachen und Religionen.

Zwischen Nationalstaat und Superstaat

Dem aktuellen Spannungsfeld zwischen Nationalstaat und Europäischer Union -samt aller damit verbundener Erscheinungen wie Schuldenkrise, Demokratiedefizit -liegt eine Wahrnehmungskrise zu Grunde. Es fehlt an neuen Konzepten, Modellen und Begriffen, um die Probleme tiefgründig zu analysieren und um ihnen Lösungsansätze zukommen zu lassen. Vor allem auf EU-Ebene ist die Bildung eines Deutungsschemas nötig, wodurch in Erkenntnis der eigenen Erfolge gelungener Integration das Gemeinsame empfunden und weiterentwickelt wird. Suchte Cusanus Antworten auf die gesellschaftspolitischen Umwälzungen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, so stehen wir heute vor den weithin sichtbaren Globalisierungsphänomenen des 21. Jahrhunderts, auf die altbekannte Konzepte wie Staat -Nation -Nationalstaat keine hinreichenden Antworten mehr geben können. In dieser Umbruchphase erleben wir einerseits das verstärkte Festhalten am Nationalstaat sowie dessen Ausdehnung in Richtung "Superstaat" in Form eines europäischen Staatenverbundes. Andererseits fußt gerade die Europäische Union als Projekt einer politischen Union der Staaten Europas mit ihrem Motto "Einheit in Vielfalt" auf einer Infragestellung des Nationalstaates.

Kein bloßes Nebeneinander

Tatsächlich lassen sich im EU-Integrationsprozess nicht wenige Beispiele gelungener dynamischer Verbindung der Teile zu einer Ganzheit aufzeigen, welche die Vielfalt der Teile nicht vereinheitlicht, sondern vielmehr fördert. Es sei hier auf die Allgemeinen Rechtsgrundsätze der EU exemplarisch hingewiesen, welche sich durch die Judikatur des EuGH als ein dynamischer Motor zur Schaffung eines EU-Grundrechtekatalogs und zum Verständnis der EU als Grundrechtegemeinschaft -und nicht mehr bloß als Zusammenschluss von Staaten mit den je eigenen Traditionen -erwiesen haben. Dabei werden diese Traditionen eben nicht negiert oder auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, vielmehr erhalten sie gerade durch die einheitliche Perspektive ihre differenzierende Bedeutung, indem in der Perspektive der Einheit ihre Relation zu den anderen Traditionen, Kulturen und Rechtssystemen sichtbar gemacht wird.

Dieses Beispiel zeigt, dass der Staat als Mitglied der Union seine als Staat konstituierende Identität und seine Souveränität nicht aus einer sinnstiftenden, weil die Differenzen vereinheitlichenden, abstrakten Kategorie der Nation erhält, sondern vielmehr aus seinem Relationsverhältnis zu den anderen Staaten durch die Perspektive der Einheit. Ganz im Sinne von Cusanus wird die Vielheit zur Vielheit erst aus der Perspektive der Einheit, sonst wäre es ein relationsloses Nebeneinandersein.

Cusanus' Denkfigur des "spiritus connexionis" als Deutungsmuster für den Geist der europäischen Einheit sollte als jenes dynamische Modell wahrgenommen werden, das eine europäische Identität zulässt, ohne im Wettstreit mit der nationalen zu stehen. Der Geist, der Europa vereint, könnte so ein Deutungsschema für den längst notwendigen nächsten Integrationsschritt, nämlich eine Vertiefung der europäischen Institutionen zu einer postnationalen politischen Union, werden.

| Der Autor ist Koordinator des Instituts für Minderheitenrecht an der Europäischen Akademie Bozen |

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