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Nikolaus von Cues

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Nikolaus Cusanus und seine lichtvollen Schriften haben uns gerade heute viel zu sagen, da die Naturwissenschaft yor den Pforten der Metaphysik steht und neben einzelnen philosophischen Pfeilern, die aus der Antike und dem Mittelalter übriggeblieben sind, überall Abgründe sichtbar werden. Solch eine Säule in klassischer Schönheit, vergeistigt und verklärt durch die Philosophie und auch für unsere Zeit ansprechend durch ihre mathematisch-geometrische Formung, ist die Lehre des großen Mannes, von dem in weiteren Kreisen leider nicht viel mehr als seine Name bekannt ist.

Als Sohn eines Moselschiffers und Winzers wurde Nikolaus im Jahre 1401 zu Kues bei Trier geboren. Früh regte sich in ihm die Anlage und Sehnsucht nach einem geistigen Leben. Er hatte das Glück, von dem Grafen Manderscheid gefördert zu werden, der ihn an der berühmten Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben zu Deventer studieren ließ. Von dort ging er an die Universität zu Padua und lernte hier den päpstlichen Legaten Julian Cesarini und den Physiker Paolo Toscanelli kennen, die ihn beide außerordentlich unterstützten und anregten.

Mit der Würde eines Doctor decretorum bekleidet, verpflanzte er als einer der ersten Humanisten die in Italien blühende Bildung bei seiner Rückkehr in sein Vaterland. Im Jahre 1428 wurde er Priester und entwarf anläßlich des Konzils zu Basel, welches eine Reformation der Kirche durchführen sollte, einen weitsich tigenRef ormationsvorschlag, niedergelegt in seiner Schrift: „Über die katholische Einheit“. Von Cesarini empfohlen, ging er nach Rom und wurde bald von Papst Eugen IV. als Legat mit wichtigen Missionen betraut, die er in Konstantanopel zwecks Vereinigung der griechischen mit der abendländischen Kirche durchführen sollte. Nach Europa zurückgekehrt, zog er sich in ein Kloster zurück und legte dort die Idee der „docta ignorantia“ (Wissen des Nichtwissens) in Buchform nieder. Nach dem Tode Eugens IV. wurde ein Freund des Cusanus, Thomas Sarzano, als Nikolaus V. zum Papst gewählt. Bald darauf (1448) wurde Cusanus Kardinal und zwei Jahre später Bischof von Brixen. Auf seinen folgenden Reisen nach Deutschland und den Niederlanden führte er energische Reformen , im Klosterween durch. Begleitet wurde er von Dionysius dem Karthäuser, einem der besten Kenner der Mystik des Dionysius Areopagita. Trotz folgender Streitigkeiten mit dem jungen Herzog Sigmund von Tirol war Cusanus geistig sehr regsam. Fr gab eine geistreiche Kritik des Korans und versuchte in einer Schrift: „De pace fidei“ („Über den Glaubensfrieden“) zu einer höheren Religiosität zu kommen, welche die ganze Menschheit umschließt. Auf Veranlassung seines päpstlichen Freundes arbeitete er an einem gewaltigen Generalreformplan der gesamten Kirche. Er starb am 11. August 1464 auf der Reise nadi Livorno, wo er das Auslaufen der Kreuzzugsflotte beschleunigen sollte. — Soweit die Lebensgeschichte dieses großen Kardinals, des größten Platonikers des Mittelalters, wie ihn sein bedeutender Interpret, Ernst Hoffmann, bezeichnet, dem wir in der Darstellung im wesentlichen folgen. Aber Cusanus war noch mehr als Platoniker und Flumanist, er führte die christliche Philosophie auf einen unerreichbaren Höhepunkt und war von nachhaltigstem Einfluß auf Leibniz. Es zeugt von der Vielseitigkeit seines Denkens, daß er die ersten Fundamente zur Integralrechnung legte, das erste Hygrometer aus trockener Wolle konstruierte, den Puls mit der Was .-uhr zählte und das Weltganze als eine ?r zenlose homogene Einheit erkannte, wobei der Erde nicht mehr die zentrale Lage im Mittelpunkt der Welt zugeschrieben werden konnte. Mit dem bedeutsamen Gedanken, daß die Erkenntnis ein Annäherungsprozeß ist, der er durch die immer wahrscheinlichere Annahme der Wahrheit näherzukommen sucht, war er ein Vorläufer moderner Geisteshaltung.

Seine Philosophie ist eigentümlich durdi eine Verbindung von exaktem Denken und mystischer Theologie, die in wunderbarer Weise Erkenntnislehre und mystische Schau miteinander vereinigte.

Ausgehend von einer Kritik der lateinischen Scholastik nach rein rationalistischer Methode, deren Fehler darin bestehen, daß sie das Absolute nach endlichen Maßstäben gedacht haben und das Schöpferische in der menschlichen Erkenntnis übersahen, gibt er eine kristallklare Schau von Gott, Christus und dem Universum. Gott ist die absolute Einheit, die kein Vielerlei kennt, er ist über allem Sein und allein das von der Welt „Abgelöste“, das Absolutum. Unter dem mathematischen Bilde des Unendlichen sind in Gott als Einheit, als Urbild und Idee von allem alle Dinge begründet, das von Gott, geschaffene Universum verhält sich zu ihm wie die Entfaltung (explicatio') zum Inbegriff (complicatio). Unter dem Prinzip der Koinzidenz führt er so die mystische Theologie des Dionysius von Areopagita zur vollen Entfaltung christlicher Philosophie. Der Bruch, der Abstand zwischen dem Unendlichen und dem einzelnen Menschen, kann nur überbrückt werden durch Christus als Inbegriff, als dem Mittler, durch welchen allein Gott für jeden Menschen das Endziel sein kann. Wie sich in Christus tiefste Erniedrigung und größte Erhöhung vereinigen, so ist damit jener unbegreifliche Schritt vom Endlichen zum Unendlichen vollzogen, den Cusanus unter einem geometrischen Bilde allegorisch festhält. Wenn Gott der Kreis ist und wenn das Universum die Allheit aller einzelnen Polygone ist, so ' ist Christus ienes größte Polygon, in welchem allein der Transitus zwisdien Polygon und Kreis gedacht werden kann. In diesem Bilde ist die Teilhabe des einzelnen am Absoluten in einem Maß? gekennzeichnet, wie es kein besonderes Einzelnes je haben kann. Aber Cusanus ist nicht nur Deuter der Verbindung von Gott und Christus, Universum und Menschheit, sondern er bringt auch das Prinzip der überweltbchen Dreieinigkeit zur vollen Geltung und vollendet damit seine großartige Darstellung christlicher Philosophie. Nur aus Gott als Geist kann die Natur begriffen werden, denn der Geist ist die ewig lebende Verknüpfung zwischen Vater und Sohn. Im Göttlichen Sohne als der höchsten Liebe ist das. Wort Fleisch geworden und in ihm kommen wir durch den heiligen Geist zu Gott Vater.

Die gesamte Dehre des Nikolaus Cusanus läßt sich am besten unter dem Gesichtspunkt seiner drei Hauptprinzipien: der docta ignorantia (Vom Wissen des Nichtwissens), der Coincidentia oppositorum (der Vereinigung der Gegensätze) und der Concordantia (der Eintracht) entwickeln. Der Grundgedanke der docta ignorantia läßt sich am besten in mathematischer Beziehung klarmachen. „Alle Forscher beurteilen das Unbestimmte nach einem Verhältnisse, indem sie es mit einem zugrunde gelegten Bestimmen vergleichen. Ein Vergleichen ist also jede Forschung und bedient sich eines Verhältnisses als ihres Mittels. Alle Forschung besteht in einem vergleichenden, mehr oder weniger einfachen Beziehen, weshalb das Unendliche als Unendliches, da es sich jeder Beziehung entzieht, unbekannt ist. Das Wesen der Dinge, das die Wahrheit des Seienden ist, ist in seiner Reinheit unerreichbar, von allen Philosophen zu erforschen versucht, von keinem, so wie es ist, gefunden; je gründlicher wir in diesem Nichtwissen unterrichtet sind, um so eher werden wir zur Wahrheit selbst gelangen.“ Daraus folgt der bedeutsame Gedanke, daß die Erkenntnis ein Annäherungsprozeß ist, der durch immer wahrscheinlichere Mutmaßungnen und Annahmen der Wahrheit näherzukommen sucht. Die Ursachen unseres Niditwissens von Gott sind die Unendlichkeit des Erkenntnisobjekts und die Beschränktheit des erkennenden Subjekts. Das Unendliche teilt aus Güte von seinem Sein mit, was allerdings nicht vollkommen aufgenommen wird. Wer wahres Wissen erlangen will, der lege die angelernten Vorurteile ab und werfe weg, was er an Weisheit ungeprüft hingenommen, und sehe nun, daß er nichts wisse. Gerade die Erkenntnis der Unerkennbarkeit Gottes befriedigt unseren Wissenstrieb und sättigt das Verlangen nach weiterer Erkenntnis, ohne es zu mindern. Indem Cusanus die letzte Beschaffenheit des Seins als unerkennbar ansieht, bezeichnet er als Gipfel der Forschung die docta ignorantia. Trotzdem ringt sich der göttliche Geist in uns langsam zur Wahrheit durch. „Unaussprechlich ist die Freude, wenn er in der Vielheit des erkennbaren Wahren die Einheit der unendlichen Wahrheit selbst berührt.“ Hier ist bereits auf das zweite Prinzip der Philosophie von Cusanus hingewiesen: die Coincidentia oppositorum. „Das ganze Streben unseres Geistes muß allen Ernstes dahin gerichtet sein, sich zu jener Einfachheit, in der die Gegensätze zusammenfallen, zu erheben.“ Immer wieder zieht er mathematische Vergleiche heran, wie er auch die Mathematik als „ein treffliches Hilfsmittel im Erfassen göttlicher Wahrheiten“ bezeichnet. Bei Betrachtung eines Kreises, dessen Radius immer größer wird, nähert sich ein begrenztes Stück immer mehr einer Geraden, so daß bei unendlich großem Radius der Umfang des Kreises eine gerade Linie ist. So kommen im Unendlichen die Gegensätze des Endlichen zur Koinzidenz wie der Gegensatz von Kreisbogen und Linie im unendlichen Kreis oder vom endlichen Kreis und unendlichem Quadrat im unendlidien Polygon. Cusanus stellt in seiner Schrift „De beryllo“ das methodische Prinzip auf, wie durch den Erkenntniskraft verleihenden Edelstein Beryll, nach dem die Brillen benannt sind, mit seiner „gleidiermaßen konkaven wie konvexen Form“ vorher Unsichtbares sichtbar gemacht1 wird. Wenn so das Unendliche mit Hilfe des Koinzidenzprinzips endliche Gegensätze zu vereinigen vermag, so sollen doch diese Gegensätze bis zur vollen Ausfaltung des Individuellen entwickelt werden, da jedes Individuelle in besonderer Weise berufen ist, die Teilhabe am Unendlichen zu erstreben, denn das All ist nach Cusanus in allem und in jeglichem auf verschieden? Weise enthalten. Das Individuelle darf nicht zerstört, sondern es muß gepflegt unci ausgebildet werden, denn in ihm allein liegt die Bedingung und die Möglichkeit, das Transzendente irdisch zu vertreten. Somit tritt uns bei Nikolaus Cusanus eine wesentliche Vertiefung des Individuumsproblems entgegen und „seine Größe liegt darin, daß er die Vertiefung der Subjektivität nicht im Gegensatz zu den religiösen Grundgedanken ds Mittelalters, sondern aus dem Blickpunkt eben dieser Grundgedanken selbst vollzieht“, wie E. Cassirer in seinem tiefschürfenden Buche „Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance“ schreibt.

Was Nikolaus von Cusa weit über den Durchschnitt seiner Zeitgenossen erhebt, ist vor allem das dritte Grundprinzip seiner Lehren: die „Concordantia“. „Concordantia catholica“ ist der Titel eines seiner ersten Schriften. Darin sucht er die christliche Einheit in der Kultur zu schützen und sie vor jeder Zersplitterung zu bewahren. In Christus als dem Endziel der Welt ist die Menschheit geeint. Er ist der höchste Bewahrer des Friedens und die christliche Kirche ist die Vereinigung der Menschen, die guten Willens sind, in ihm.

Vor unserem geistigen Auge steht die edle Gestalt des Kardinals und seiner Lehre, von jenem wahrhaft christlichen rrnd humanistischen Geist erfüllt, der die Zeiten überdauert. Durch seine kühnen mathematischen Vergleiche ist Cusanus dem wissenschaftlichen Denken nserer Zeit nahegerückt und seine großartige Toleranz berührt uns ebenso sympathisch wie sein Bestreben, die Vereinigung von Gegensätzen unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit aufzuzueigen.

Er hat in glücklichster Weise das platonische Ideengut der Antike mit christlichem Glaubensinhalt und mit wissenschaftlich-mathematischer Begriffsbildung zu einem geschlossenen System verbunden, das für unsere Generation noch einmal die Arche werden mag in der wahren Sündflut von widerstreitenden Lehrmeinungen und Begriffen.

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